In Lola Arias' Stück "Mein Leben danach" wird der Familien- und Landesgeschichte nachgespürt - auch mit E-Gitarre.

 

Foto: Lorena Fernández

Federico León spielt mit dem Blick aus dem Jetzt auf eine vergangene Zukunft. Lola Arias stellt junge Menschen mit sehr unterschiedlichen Familiengeschichten aus der Militärdiktatur gegenüber. 

In der argentinischen Theaterszene tut sich Aufregendes, vergleichsweise junge Multitalente hinterlassen seit einigen Jahren lebendige, sich ständig verändernde Spuren auf und jenseits der Bühnen. Zwei von ihnen, Federico León uns Lola Arias, sind mit Produktionen, die sich indirekt und auch sehr direkt mit der Geschichte ihres Landes befassen, im Steirischen Herbst zu Gast.

"In Buenos Aires gibt es heute eine große Zahl von unabhängigen Theatern und einzelnen Leuten oder auch Gruppen, die in der kompletten Off-Szene arbeiten", erklärt León die Situation in seiner Heimat dem Standard: "Es gibt viele Leute, die an einem Projekt arbeiten, ohne zu wissen, wo oder wann es Premiere haben wird, oder, ob sie überhaupt Geld dafür bekommen werden. Das sind Leute, die sich um Ideen herum versammeln und in Langzeitprojekten, länger als sechs Monate, daran arbeiten."

Dabei sind jene, die künstlerisches Multitasking betreiben, wie Arias und er selbst, keine Ausnahmen: "Schauspieler, die Regie führen, Autoren, die spielen, viele Rollen werden geteilt - und aus dieser nicht gerade traditionellen Arbeitsweise entstehen singuläre, sehr reichhaltige Stücke."

Super-8-Zeitkapsel

Auch der 1975 geborene mehrfach mit Preisen für seine Dramen ausgezeichnete Federico León filmt seit 2001, schauspielt und führt bei Theaterproduktionen Regie. Er begann dabei schon vor zehn Jahren, sich einen Namen zu machen. In der Produktion Yo en el futuro (Ich in der Zukunft) lässt er das Publikum an einem spannenden, vielschichtig gedachten Experiment teilhaben, das sich über Generationen zieht.

Die Protagonisten, die hier ihr Ich für die Zukunft konservieren und später reflektieren, sind zunächst ein paar Kinder. Sie drehen in den 1950er-Jahren einige kurze experimentelle Super-8-Filme, die sie in der Zukunft gemeinsam anschauen wollen. In den Siebzigerjahren sieht man die einstigen Kinder wieder. Sie sind zusammengeblieben, eine Gruppe junger Leute geworden, die mit Theater, Performance und Film arbeitet. In der dritten Phase sind sie schließlich etwa 70 Jahre alt und lassen eine Gruppe von Kindern und jungen Erwachsenen ihre alten Filme noch einmal nachspielen.

"Wir wollten ein Stück machen, in dem Theater und Film eine Rolle spielen", erklärt León. Ursprünglich wurde Yo en el futuro auch in einem alten Kino in Buenos Aires aufgeführt. Eines jener alten Lichtspieltheater, in denen in den Fünfzigerjahren Varieté-Künstler auf einer kleinen Bühne vor der Leinwand auftraten, bevor der Film begann. Diese Jobs, welche der peronistischen Beschäftigungspolitik entsprangen, werden auch in Leóns Stück thematisiert.

Die Geschichte seiner Heimat beeinflusse ihn schon, meint León, aber "in einer eher unbewussten Art und Weise. Argentinien ist ein sehr unberechenbares Land, und man muss sich dessen bewusst und bereit sein, mit sehr verschiedenen Situationen umzugehen. Die Regeln verändern sich dauernd." Ein Zustand, der sich in der Kunst direkt niederschlägt, wie der Theatermacher weiß: "Auf eine bestimmte Art ist das einem kreativen Prozess sehr ähnlich."

Kinder einer Generation

Nicht nur unbewusst, sondern dezidiert lässt Lola Arias argentinische Geschichte des 20. Jahrhunderts in ihre Produktion Mi Vida Después (Mein Leben danach) einfließen. Die 33-jährige Arias, die schon 2007 im Steirischen Herbst zu Gast war, stellt darin Frauen und Männer ihrer eigenen Generation vor und zeigt, wie die Schatten der Familiengeschichte ihr heutiges Leben bestimmen: etwa Carla, geboren 1976.

Sie ist die Tochter eines Mannes, den sie nie kennenlernen konnte, weil er im Widerstand vier Monate vor ihrer Geburt starb. Die einzige Brücke von Carla zu ihrem Vater Carlos ist ein Brief. Der Vater schrieb ihn an die Mutter, die ihn während der Diktatur in einer Puppe versteckt hatte und ihn so für die Tochter erhalten konnte.

Anders und doch auch voller Geheimnisse ist die Geschichte der zwei Jahre älteren Vanina. Ihr Vater gab vor, Pharmavertreter zu sein, war aber Geheimagent für die Militärdiktatur und stahl ein Kind einer zu Tode gefolterten Gegnerin der Diktatur. Es ist der vermeintliche Bruder von Vanina, wie Letztere erst als erwachsene Frau erfährt.

Es sind wahre Biografien, denen hier von sechs Schauspielern mithilfe von Briefen, Fotos, Kassetten und überlieferten Erinnerungen Leben eingehaucht wird. Es ist ein Versuch, die Zukunft anhand der Vergangenheit zu verstehen. Sowohl León als auch Arias werden im Zuge des Festivals Beispiele ihrer anderen Handwerke zeigen. Arias macht neben Theater auch Musik und spielt am 15. 10. um 21.30 Uhr gemeinsam mit ihrem Kollegen Ulises Conti ein Konzert im Festivalzentrum.

León ist mit einem seiner Filme vertreten. Estrellas, bei dem er mit Marcos Martinez Regie führte, wird am 10. 10. um 21.30 Uhr im Festivalzentrum gezeigt. (Colette M. Schmidt / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8.10.2009)