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Vergeblich versuchte ein Abgeordneter, Einwohner von Pikaljewo zum Ende der Straßenblockade zu bewegen. Das schaffte erst Premier Putin mit einem Machtwort an Oligarch Deripaska.

Foto: Reuters/Sagorujko
Graphik: Standard

Kilometerlange Staus sind in Russland nichts Ungewöhnliches. Doch als auf der Bundesstraße nach Wologda im Juni der Verkehr zum Erliegen kam, erweckte dies sogar die Aufmerksamkeit von Premierminister Wladimir Putin. Nicht eine Baustelle, ein Unfall oder ein liegengebliebener Lkw sorgten für den Stau, sondern 400 Einwohner der Stadt Pikaljewo, die aus Protest wegen nichtbezahlter Löhne die Straße blockierten.

Putin maß dem Protest eine derartige Bedeutung zu, dass er mit dem Hubschrauber angeflogen kam, um für Ordnung zu sorgen. Er zwang den auch in Österreich bekannten Oligarchen Oleg Deripaska, den Eigentümer des örtlichen Zementwerkes und größten Arbeitgeber von Pikaljewo, vor laufender Kamera einen Vertrag zu unterzeichnen, der die Auszahlung der Löhne und den Fortbestand des Zementwerkes garantieren soll.

Seitdem steht Pikaljewo symbolisch für die Probleme in den rund 460 russischen Monostädten - einem Erbe der sowjetischen Planwirtschaft. Diese Arbeitssiedlungen entstanden damals rund um eine bestimmte Produktion, sei es Bergbau, Zement oder Holzverarbeitung. Damals wie heute hängen dieses Städte am Tropf eines einzigen Unternehmens.

In den meisten Fällen haben diese Unternehmen auch eine soziale Funktion und unterhalten Einrichtungen wie Kindergärten, Polikliniken oder Wohnheime. Doch in der Krise lassen die mittlerweile privaten Eigentümer die Monostädte im Stich. Sie lassen die Unternehmen bankrottgehen, zahlen keine Löhne mehr oder machen sich aus dem Staub.

Hungerstreiks angedroht

Das Beispiel Pikaljewo machte rasch Schule. Auch in Baikalsk, wo jeder vierte Einwohner arbeitslos ist, blockierten wütende Arbeiter die Straße. In Gawrilow-Jam, Gorno-Altaisk und Swetlogorje drohten die Einwohner auch mit Hungerstreiks, um die Auszahlung ihrer Löhne zu erzwingen.

Die Regierung hat erkannt, dass der Premier nicht jedes Mal, wenn es in einer Monostadt zu Protesten kommt, in den Hubschrauber steigen kann, und hat ein Hilfsprogramm für die notleidenden Städte erarbeitet. Moskau will im nächsten Jahr zehn Milliarden Rubel (220 Mio. Euro) aus dem Budget bereitstellen, noch einmal so viel könnte aus dem Investmentfonds kommen. Mit dem Geld sollen Arbeiter umgeschult, die Wirtschaft soll diversifiziert werden.

Finanzhilfe erhalten allerdings nur jene Städte, deren Industrien sich modernisieren lassen. Laut dem Ministerium für Regionalentwicklung haben nur Städte eine Überlebenschance, die in der Nähe der großen Industriezonen oder von Hauptverkehrswegen liegen, die über ein Alleinstellungsmerkmal verfügen oder deren Region sich für Landwirtschaft eignet. Laut einer internen Liste des Ministeriums trifft dies auf 280 Monostädte zu. Um Baikalsk etwa soll ein "Erdbeerparadies" entstehen.

17 Städte stehen laut der Tageszeitung Wedomosti unter ständiger Beobachtung. "In ihnen kann die soziale Lage jederzeit explodieren. Schnelles Handeln ist gefordert" , sagte ein Mitarbeiter des Ministeriums. Besonders trist ist laut einem Bericht des russischen Newsweek die Lage in Parfino, Gawrilow-Jam, Nytwa und Belaja Bereska. "Die sozialen Risiken in diesen Städten sind sehr groß. Die Besitzer sind an der Modernisierung der Unternehmen nicht interessiert. Dort hat schon zu Zeiten des Wirtschaftsbooms niemand Geld investiert" , sagt Stanislaw Naumow, stellvertretender Industrieminister.

Die Regierung denkt daher über die Umsiedlung der Einwohner dieser perspektivlosen Städte nach. Es sei ökonomisch nicht sinnvoll, Unternehmen, die mit 40 Jahre alten Technologien arbeiten, bei der Modernisierung zu unterstützen, so Naumow. Ihm zufolge könnten 20 Prozent der Monostädte aufhören zu existieren. Laut russischen Medien gibt es bereits einen Beschluss, zwei Städte der Republik Komi im Nordwesten des Landes umzusiedeln. (Verena Diethelm aus Moskau/DER STANDARD, Printausgabe, 6.10.2009)