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Über ein Jahr nach dem Kaukasuskrieg wurde am Mittwoch der EU-Untersuchungsbericht zu den Ursachen des Konflikts veröffentlicht. Der Hamburger Völkerrechtler Otto Luchterhand war an der Erstellung des 900-Seiten-Dokuments maßgeblich beteiligt. Im Gespräch mit Berthold Eder erklärt Luchterhandt, was die Welt aus dem Konflikt lernen sollte und wie sich die Lage im Nordkaukasus entwickeln könnte.

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derStandard.at: Was kann die internationale Gemeinschaft, die während des Augustkriegs ja wie vor Schreck erstarrt und handlungsunfähig war, aus diesem Konflikt lernen?

Otto Luchterhandt: Die Vergangenheit kann man nicht mehr ändern, aber es gilt zu verhindern, dass ähnliche Konflikte in der Region sich in diese Richtung entwickeln. Leider muss ich feststellen, dass die Entwicklungen in Berg-Karabach, der dritten Irredenta im Südkaukasus, von der Weltöffentlichkeit kaum beachtet werden. Man hat also offenbar nichts gelernt.

Der Krieg begann unter anderem, weil der Westen es zuließ, dass Präsident Saakaschwili sich standhaft weigerte, ein Gewaltverzichtsabkommen mit Abchasien und Südossetien abzuschließen. Wenn es eine solche Übereinkunft gegeben hätte, wäre es für ihn viel schwerer gewesen, die Entscheidung für den Angriff zu treffen, weil er dann damals schon vor der Weltöffentlichkeit als Aggressor dagestanden wäre, wie er es nun, nach Veröffentlichung des Berichts, ohnehin tut.

Der Präsident Aserbaidschans, Ilcham Alijew, hat Mitte Juli bei einem Vortrag in London die Lösung des Karabach-Problems mit militärischen Mitteln ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Mit Hilfe aus der Türkei und anderen Staaten hat das Land in letzter Zeit vor allem seine Luftwaffe massiv aufgerüstet, und Alijew könnte wie Saakaschwili versuchen, mit einem raschen Vorstoß vollendete Tatsachen zu schaffen, bevor die Weltöffentlichkeit aufwacht.

derStandard.at: Wird Ihrer Meinung nach die Veröffentlichung des Berichts Konsequenzen für Präsident Saakaschwili haben?

Luchterhandt: Damit rechne ich nicht. Er hat die Machtstrukturen fest im Griff und in den fünf Jahren seiner Präsidentschaft die oppositionellen Medien unter Kontrolle gebracht und damit das Instrument ausgeschaltet, das die „Rosenrevolution“ möglich gemacht hat. Auch die Justiz kontrolliert er, und zusammen mit der Mehrheit seiner Partei im Parlament kann man sagen, dass die Gewaltenteilung de facto abgeschafft ist. Die Opposition, deren bedeutendste Anführer alle bis vor kurzem im Lager Saakaschwilis beheimatet waren, kann zwar demonstrieren, wird aber nichts verändern.

derStandard.at: Hatte Präsident Saakaschwili eine realistische Chance, mit seiner Behauptung, die Beschießung der Stadt Zchinwali sei nur Reaktion auf einen bevorstehenden russischen Angriff, durchzukommen?

Luchterhandt: Nein. Die Tatsachen waren gegen ihn. Die EU-Mission hat die Frage, was in den Tagen vor dem Angriff auf Zchinwali passiert ist, außerordentlich intensiv untersucht, und keine einzige seiner Behauptungen hat sich als hieb- und stichfest erwiesen.

Auf die Informationen, die Geheimdiensten wie CIA und BND zum Zeitpunkt des Angriffes vorlagen, hatte die Untersuchungskommission leider keinen Zugriff.

derStandard.at: Ein Jahr nach dem Konflikt haben sich die Fronten verhärtet, zehntausende Flüchtlinge können nicht zurück. Eine Autonomielösung für Abchasien und Südossetien, die den Krieg verhindern hätte können, ist jetzt unmöglich. Wäre eine solche Lösung vorher realisierbar gewesen?

Luchterhandt: Durchaus. In den 90er Jahren wäre für Süd-Ossetien eine Lösung wie das Gruber-De-Gasperi-Abkommen, das 1946 die Autonomie Südtirols regelte, erreichbar gewesen. Natürlich ist im Kaukasus die Lage schwieriger als in Mitteleuropa: Gewaltbereitschaft und Emotionalität sind stärker, weswegen stärkere internationale Garantien als im Fall der Schutzmacht Österreich erforderlich wären.

Der damalige Präsident Schewardnadse hat es leider nicht einmal versucht, Südossetien einen Status wie den Adschariens zu gewähren: Diese Region, die von ethnischen Georgiern besiedelt ist, die während der osmanischen Herrschaft islamisiert wurden, genießt den Status einer Republik im georgischen Staatsverband.

In Tiflis hielt man aus Angst vor einer möglichen Unabhängigkeitserklärung einer Republik Südossetien, die sich dann vielleicht sogar im Rahmen der Russländischen Föderation mit Nordossetien vereinigt hätte, eine solche Lösung für völlig indiskutabel.

derStandard.at: Hätte Ihrer Meinung nach Russland ohne den Krieg jemals die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens anerkannt?

Luchterhandt: Nein. Die Russen hatten kein Interesse, ihre Möglichkeiten, über ihren Einfluss auf Südossetien und Abchasien in der georgischen Innenpolitik zu intervenieren, zu verlieren. Außerdem müssen sie jetzt die beiden Provinzen erhalten.

derStandard.at: Werden Ihrer Meinung nach in absehbarer Zeit weitere Staaten die beiden abtrünnigen Provinzen anerkennen?

Luchterhandt: Das würde ich nicht ausschließen. Nach dieser Konfrontation werden diese Gebiete nie wieder Bestandteil Georgiens sein. Eine Anerkennung Abchasiens durch europäische Staaten würde im Gegensatz zur derzeitigen Politik nicht den Prozess der Annäherung an die Russländische Föderation fördern, sondern zur Entspannung beitragen und eine Annäherung an Georgien ermöglichen. Schließlich sind ein Viertel der heutigen Bevölkerung Abchasiens Georgier.

In Südossetien ist die Lage komplizierter, weil durch die Beziehungen zur benachbarten Republik Nordossetien das Schwergewicht der Bevölkerung in Russland liegt. (derStandard.at/5.10.2009)