Almhütte ohne Halter (sie sind scheu!): Die Hütten sind eine halbe Stunde Fußmarsch voneinander entfernt. Weil die Arbeit gefährlich ist und der Handyempfang nicht gut funktioniert, passt man aufeinander auf.

Foto: Kutzenberger

"So etwas würde ich gern Arbeit nennen", scherzt der Bauer aus dem Tal und macht den gleichen Fehler wie die Wanderer, die den vor seiner Hütte sitzenden pfeifenrauchenden alten Mann in forciert wirkender Mundart fragen, ob sie ein Foto von ihm machen dürften. Sie dürfen, auch wenn sie dann daheim erzählen werden, wie gemütlich es die Senner auf der Alm hätten. Den ganzen Tag in der Sonne vor der Hütte sitzen und den Kühen beim Grasen zusehen, das wäre doch etwas für den gestressten Menschen aus der Stadt. Der alte Mann sagt nichts, lächelt und lässt sich fotografieren. Er korrigiert nicht einmal, dass er gar kein Senner ist. Er ist Halter.

Senner betreiben Milchwirtschaft, was hier unmöglich wäre. Die nächste Straße ist fünf Gehstunden entfernt. Fünf Gehstunden für einen Städter, der Halter braucht die Hälfte der Zeit von der Straße bis auf seine Alm. Aber auch das ist zu viel, um Milch abtransportieren zu können, und um Käse herzustellen, fehlen kühle Keller. Die Milch der Mutterkühe gibt es nur für die Kälber, die mit auf die Alm gegangen sind. Nur wenn ihn jemand nach einer Pflanze fragt, wird er redselig, ist er doch Gärtner unten im Tal. Sogar von der Universität kommen die Biologen zu ihm, wenn sie etwas über Alpenkräuter wissen wollen, niemand kennt die Flora des Toten Gebirges besser als er. Wunderschön liegt die saftige Weide vor ihm. Kühe sind nicht zu sehen, die haben beschlossen, auf die andere Seite des Hochplateaus zu gehen, fast bis zum Offensee hinunter, wie er heute Früh feststellen musste, als er seine siebzig Rinder suchte.

Dass er über acht Stunden auf unwegsamem Terrain unterwegs war, bis er endlich jede einzelne seiner verstreuten Kühe identifiziert hat, weiß keiner der vorbeigehenden Touristen, auch nicht, dass er schon 72 ist. Wenn das Wetter weniger schön ist oder ein Vieh sich verirrt hat, kann ein Kontrollgang auch 14 Stunden lang dauern, aber kein Tag vergeht, an dem er nicht jedes seiner Tiere gesehen hat. Er kennt sie alle, weiß, welches Kalb zu welcher Kuh gehört, welcher Ochs störrisch, welche Kuh streichelbedürftig ist. Sogar wer welche Lieder gerne hat, weiß er, denn sie bekommen nicht nur Salz von ihm, auch Musik. Heute genießt er tatsächlich den schönen Nachmittag vor seiner Hütte, schaut auf den überwältigenden Gletscher des Dachsteins, der am Horizont glitzert und scheint erst jetzt den Bauern, der ihn geneckt hat, zu bemerken. Er geht gar nicht darauf ein, fragt nur, ob die Familie mitgekommen ist. Nein, sagt der Bauer, er wolle einmal einen Tag allein in seiner Hütte auf der Alp verbringen.

Hier oben stehen etwa zehn der bis zu 200 Jahre alten Almhütten, manche behutsam hergerichtet, andere so verwittert wie Hexenhäuschen aus einem Märchen. Jeder Bauer, der im Sommer sein Vieh auf die Alm treibt, hat seit Maria Theresia das Recht, eine Hütte auf die Weide zu stellen. Die Bundesforste kontrollieren streng, dass nur diejenigen hier schlafen, die ein Almrecht besitzen - sonst niemand. In der Halterhütte verbringen die Halter den Sommer. Diese ist meist kleiner, aber der Halter ist auch allein. Die vier Halterhütten sind etwa eine halbe Stunde Fußmarsch voneinander entfernt. Da es hier oben weder Strom noch verlässlichen Handyempfang gibt, die Arbeit aber gefährlich ist - leicht rutscht man aus, verletzt sich am Horn einer Kuh oder an einer Axt -, passt man aufeinander auf, versucht jeden zweiten Tag voneinander zu hören und sich dienstags im Appelhaus zu treffen. Wenn man Glück hat, wartet dort ein Esspaket aus dem Tal, von der Familie oder den Bauern der Materialseilbahn mitgegeben.

Den Grundstock an Lebensmitteln bringt vor dem Almauftrieb ein Helikopter, der nur sieben Minuten vom Altausseer See auf den Berg braucht. Für das tägliche Mahl heißt das inmitten von Biolandwirtschaft vor allem Dosennahrung. Auch Seife, Rasierer und Klopapier sollte man nicht vergessen. Das Bad ist eine eiskalte Quelle, einen Steinwurf von der Hütte entfernt. "Wenn es endlich eine Straße gibt, bring ich dir jeden Tag etwas vorbei" , versucht der Bauer erneut das Gespräch mit seinem Halter. Doch dieser will keine Straße. Ihm ist es egal, dass die Bauern gleich viel Geld von der EU bekommen, ob sie nun die Kühe mühsam die 1000 Höhenmeter vom Tal auf die Hochebene treiben müssen oder einfach mit dem Lastwagen hinaufbringen. Er braucht auch sein Essen nicht mit dem Auto vor die Tür geliefert bekommen, deshalb ist er ja seit 17 Jahren jeden Sommer hier. Nicht, weil es so idyllisch ist, wie die Touristen falsch vermuten, sondern weil er seine Ruhe haben will, weil er auch im Regen singend durch die Bergwiesen gehen möchte, um seine Kühe zu finden. Weil er gemeinsam mit Bauern und Haltern die Latschen schwendten möchte, damit diese nicht Weidefläche verwachsen. Damit dieses Paradies hier oben bestehen bleibt. Er schüttelt nur den Kopf, möchte keinen Streit beginnen, schließlich ist er der Halter des Bauern, was nicht viel mehr bedeutet als sein Knecht, natürlich ungleich freier, da niemand ihm vorschreiben kann, wann er was zu tun hat. Die alten Halterinnen, die noch vor dem Krieg hier waren, sagen immer noch, dass diese Zeit auf dem Berg die schönste ihres Lebens war, denn nie waren sie, trotz der vielen Arbeit, so frei.

Am nächsten Tag ist alles weiß. Der Regen ging in Schneeregen über, dann in Schnee, der in kürzester Zeit alles kniehoch bedeckt hat. So beschaulich gestern das Leben auf dem Berg gewirkt hat, heute zeigen die Alpen, wie viel Respekt man vor ihnen haben muss. Wie aus einer anderen Zeit kommend, stehen schneebedeckte Sonnenliegen auf der Terrasse des Appelhauses. Im nasskalten Treiben hört man Kuhglocken widerhallen, begleitet vom verzweifelten Rufen der Mutterkühe und dem hungrigen Muhen der Ochsen. Eine Herde sucht bei der Schutzhütte nach Essbarem, weil plötzlich alle schmackhafte Nahrung unter einer kalten, rutschigen Schicht verschwunden ist. Es ist nicht unklug von den Kühen, zum Gasthaus zu kommen. Die Wirtin nimmt kurzerhand einen großen Sack Semmelbrot aus der Küche und verfüttert ihn an die das Haus belagernden Rinder. "Kimm, kimm, kimm" hört man eine Stimme rufen. Die drei Halter und die Halterin, die diesen Sommer für 200 Rinder und zwei Ziegen zuständig sind, sitzen am Stammtisch und wissen nicht, ob sie lachen oder weinen sollen. Sie entscheiden sich für etwas dazwischen: Sie singen vierstimmige Volksweisen und improvisieren dazu Texte. Immer wieder kommen Goaß vor, Ziegen, die stinken und deren Milch niemand trinken will.

Österreichweit kommen jedes Jahr über 400.000 Tiere auf die Alm, davon nur etwa 6000 Ziegen. Obwohl Ziegen auf der Alm die besseren Kühe sind, kleiner, geländegängiger und genügsamer als die riesigen, über 700 Kilo schweren Zuchtrinder, die nichts mehr mit den Tieren zu tun haben, die noch vor ein paar Jahrzehnten hier auf den Almen grasten, werden Ziegenbauern und -halter nicht für voll genommen. Goaßhalter bleibt ein Schimpfwort.

Es gibt Glühwein am Halterstammtisch an diesem 18. Juli 2009. Draußen liegt Schnee. Die Kühe müssen diesen Tag ohne ihre Hüter auskommen. Es wäre zu gefährlich, sie zusammenzutreiben, der Schnee verdeckt Bodenunebenheiten und Löcher. Man hat in den Alpen 3000 Jahre alte Fundamente für Kuhunterstände gefunden, doch während die Ziegen die kalte Nacht unter einem Stalldach verbringen dürfen, müssen sich die Kühe unter Bäumen selbst Schutz suchen, für sie gibt es keine Dächer mehr, da nicht genug Geld in die Almwirtschaft investiert wird, um neue zu bauen.

Am nächsten Tag scheint wieder die Sonne. Ein Kalb und ein junger Ochse haben den Wintereinbruch nicht überlebt, sind ausgerutscht und abgestürzt. Das Kalb ist tot, als man es nach zwei Tagen Suche findet, der Ochse muss mit zertrümmertem Kiefer vom Jäger erschossen werden. Beide werden von einem Hubschrauber ins Tal gebracht. Früher wurden abgestürzte Tiere begraben, was nicht einfach war bei der dünnen Humusschicht in den Kalkalpen. Oft musste man viele Löcher graben, bis endlich eines tief genug war, um einen Rinderkadaver zu beherbergen. In Vorarlberg entsorgt man abgestürzte Rinder angeblich rustikaler: mit einer rektalen Dynamitstange.

Bald beginnt die Jagdsaison, da müssen die Kühe von den Weiden. Der ewige Konflikt zwischen Almwirtschaft und Jagd ist in den letzten Jahrzehnten beigelegt worden, mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kauften kapitalkräftige, nichtbäuerliche Schichten viele Almen auf. Die neuen Inhaber glaubten, durch freie Wiesen mehr Wild anlocken zu können. Es zeigte sich aber, dass die Almen ohne Betreuung der Halter und grasende Rinder zu verkarsten drohten. Almen sind komplexe, uralte Kulturlandschaften, die viel Pflege brauchen. Wenn sie funktionieren, spenden sie auch dem Wild wertvolle Nahrung. Kühe und Halter müssen Mitte September wieder im Tal sein. Touristen dürfen natürlich das ganze Jahr über die Landschaft genießen. Auch wenn man sich hier wie im Herzen der Natur fühlt, sind die Bilderbuch-almwiesen Ergebnis einer uralten Kulturarbeit. Trotzdem würde eine Straße nur stören. (Stefan Kutzenberger/DER STANDARD/Album, Printausgabe, 3.10.2009)