Haneke im Hohen Haus: Viel Prominenz kam zu der in Kooperation mit dem STANDARD veranstalteten Premiere des preisgekrönten Michael-Haneke-Films "Das weiße Band" im historischen Sitzungssaal des Hohen Hauses. Nationalratspräsidentin Barbara Prammer, STANDARD-Herausgeber Oscar Bronner, Produzent Veit Heiduschka und Haneke selbst (v.r.) sprachen zur Einführung.

Foto: STANDARD/Fischer

Michael Haneke, Cannes-Sieger mit Oscar-Chancen.

Foto: Heribert Corn

Die Tochter des Arztes erhält nach einem Unfall überraschenden Besuch: das famose jugendliche Darstellerensemble aus "Das weiße Band".

 

Kein einfacher Tatbestand
Beklemmende Gesellschaftsstudie

Wien - Zuerst stürzt einer mit dem Pferd fast zu Tode. In seiner kleinen Gemeinde löst dieser Vorfall Bestürzung aus. Ermittlungen werden aufgenommen, keiner kann sich erklären, wer eine Schnur heimtückisch über den Weg gespannt hat und wohin dieses Beweisstück verschwunden ist. Aber eine gewisse Unruhe liegt von da an über dem Dorf. Und diese Atmosphäre verdichtet sich, zumal sich weitere ungewöhnliche Vorkommnisse häufen.

Eine klassische Tätersuche sollte man sich von Michael Hanekes mit der Goldenen Palme prämiertem Spielfilm Das weiße Band, der im Untertitel Eine deutsche Kindergeschichte heißt, allerdings nicht erwarten. Wie zuletzt in Caché studiert der Autor und Regisseur auch hier Verhaltensweisen und Gesellschaftsmodelle, soziale Konventionen und deren Übertretung, und zwar anhand des protestantisch geprägten dörflichen Mikrokosmos, der in der Vergangenheit, in Norddeutschland kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs situiert ist. In bestechendem Schwarz-Weiß und mit einem Ensemble, in dem neben Susanne Lothar und Burghart Klaussner auch weitgehend unbekannte junge Darsteller (Roxane Duran, Leonie Benesch, Leonard Proxauf u.a.) ihre sprachlosen Figuren beeindruckend intensiv verkörpern. (irr, DER STANDARD/Printausgabe, 23.09.2009)

Foto: Filmladen

Dominik Kamalzadeh sprach mit dem österreichischen Regisseur über Stil, Ideologie und falschen Naturalismus.

***

Standard: "Das weiße Band" wirkt wie eine Literaturverfilmung eines Romans aus den 1910er-Jahren, in Wahrheit handelt es sich aber um ein Originaldrehbuch von Ihnen. Was hat Sie an diesem Spiel mit den Konventionen einer etablierten Form gereizt?

Haneke: Ich bin ein Fan von choralen Filmen, mit einem Panorama vieler Figuren, wie es ja auch schon Code inconnu war. Stilmittel wie beispielsweise der Off-Erzähler sind eigentlich keine Konvention, weil sie heutzutage eher unüblich geworden sind. Wäre der Film vor 15, 20 Jahren im Fernsehen gelaufen, hätte er zwar auch irritiert, dennoch wäre er eher die Norm gewesen. Es stellt sich doch immer die Frage, was macht ein Film zu welchem Zeitpunkt? Heute ist es schon fast avantgardistisch, wenn man einen Erzähler einführt.

Standard: Das Alte wird also das Neue von morgen sein?

Haneke: Natürlich, man kann an der Kulturgeschichte sehen, wie das Alte immer wieder zur Avantgarde wird. Weil es zu einer Umkehrung der herrschenden Erzähl- oder Abbildungsformen kommt. Es haben mich viele Leute gefragt, nach welchem Roman der Film gemacht ist – das hat mir natürlich Spaß gemacht! Es ist auch reizvoll beim Schreiben, wenn man sich eine Form einverleibt und einen Stil findet, der das Geschehen glaubwürdig macht. Die Sprache, die Dialoge – das war ja lustig zu schreiben.

Standard: Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, von einem protestantischen Dorf in Norddeutschland kurz vor dem Ersten Weltkrieg zu erzählen?

Haneke: Jede Geschichte hat ihre eigene Form. Ich wollte zeigen, dass überall dort, wo Leid, Unterdrückung, Demütigung und Verzweiflung herrschen, ein Boden für die Empfänglichkeit von jeder Art von Ideologie bereitet wird. Aus einer Idee wird schnell Ideologie, wer der nicht entspricht, wird bestraft oder ausgegrenzt. Und ich wollte über Kinder erzählen – da hat sich dieser Zeitpunkt aufgedrängt, weil man ja weiß, was aus dieser Generation später wurde. Ich habe sehr viel recherchiert, was ich normalerweise nicht mache – bei historischen Filmen ist es aber unerlässlich. Vor allem über Erziehung habe ich Tonnen von Büchern vertilgt und daraus viel übernommen, auch die Geschichte mit dem weißen Band, das als Erziehungsmittel empfohlen wurde.

Standard: Erziehung und die sublime Gewalt zwischen den Generationen ist ja in vielen Ihrer Filme ein Thema. Was hat Sie an diesem strikten Regiment interessiert?

Haneke: Man darf nicht vergessen: Heute kommt uns das alles sehr grausam vor, damals aber war dieses Verhalten normal. Das waren keine Sadisten – sie sind von ihrem positiven Tun zutiefst überzeugt. Deshalb war mir auch so wichtig, dass der Pfarrer kein Arschloch ist. Sonst wäre der Film ja uninteressant. Der Pfarrer meint seine Erziehung gut, und wenn ihm der Lehrer seinen Verdacht über die Kinder unterbreitet, ist er am Boden zerstört. Er ist im Grunde eine tragische Figur. Mich hat interessiert, dass es damals eine generell akzeptierte Verhaltensweise gab, die dann zu bestimmten Resultaten führen muss.

Standard: Georg Seeßlen hat einmal über Ihre Filme geschrieben, dass die Revolte der Kinder nicht aus den Institutionen heraus, sondern in ihr Zentrum führt. Teilen Sie diese Einschätzung?

Haneke: Eigentlich nicht, das ist mir zu positiv formuliert. (lacht)

Standard: Warum?

Haneke: Wenn ich es richtig verstanden habe, heißt das, man könne die Dinge durch Objektivierung ins Positive verändern. Ich glaube aber, dass die Veränderung nicht eine zum Positiven sein muss. Die Revolte zerstört das vorhandene System, aber die Neuschöpfung ist hier nicht besser.

Standard: Welche Rolle weisen Sie dem Protestantismus in dieser ideologischen Verhärtung zu?

Haneke: Irgendwann habe ich mir schon die Frage gestellt, warum der Faschismus in Deutschland so anders ausgesehen hat als in Italien. Warum Gudrun Ensslin aus ei-nem protestantischen Pfarrershaus kommt – und auch Ulrike Meinhof, die ich noch kennenlernte, aus einer sehr gläubigen Familie kam. Ich meine, ihr Rigorismus hat mit dem Elternhaus zu tun – es war eine auslösende Reflexion, da mal nachzuforschen.

Standard: Das erinnert an die Argumente von Götz Aly: Die Gewalt der RAF als Spätausläufer des Fundamentalismus der Generation davor.

Haneke: Wenn man sich das genau anschaut, fällt es einem auf. Natürlich kann man das Prinzip auch auf gegenwärtige Beispiele übertragen, etwa auf die Islamisten – es hat immer mit der Demütigung einer ganzen Kultur zu tun und dem Wunsch, sich zu retten. Daraus entsteht ein Radikalismus, der lebensgefährlich ist. Davon handelt der Film: Der deutsche Faschismus ist nur ein Aufhänger, das Thema wäre für einen Film viel zu komplex. Das weiße Band versucht dieses Grundmodell von Fundamentalismen zu beschreiben. Jede Idee birgt die Chance ihrer Pervertierung.

Standard: Sie haben auf Farbe gedreht und den Film in der Postproduktion digital in Schwarz-Weiß umgewandelt. Warum dieser enorme Aufwand?

Haneke: Weil das Schwarz-Weiß-Filmmaterial, das wir heute bekommen, nicht die Lichtempfindlichkeit hat, um damit bei Kerzen- und Petroliumlicht zu drehen. Was wir im Sinn hatten, wäre also gar nicht machbar gewesen. Außerdem ist der Wirklichkeitscharakter der Geschichte gebrochen. Das betont auch das Schwarz-Weiß wie auch der Erzähler, der unverlässlich bleibt. Es handelt sich um die subjektive Betrachtung einer Geschichte und nicht um die objektive Betrachtung der Wirklichkeit. Diese Relativierung war mir wichtig. Bei historischen Filmen macht mir immer diese freche Behauptung Bauchweh, dass alles so gewesen sei. Der falsche Naturalismus der Farbe suggeriert Wirklichkeit. SchwarzWeiß ist da distanzierter: ein Artefakt. Abgesehen davon, kennen wir die Bilder aus dieser Zeit nur in Schwarz-Weiß.

Standard: Aber daran müsste man sich ja nicht festhalten. Könnte man nicht auch die Künstlichkeit mit Farben betonen?

Haneke: Sie können keinen historischen Film in Farbe machen ohne einen gigantischen Aufwand, den selbst die Amerikaner nicht leisten können. Die Farben stimmen ja nicht. Jene der Häuser waren aus Naturfarben, heute sind es Kunstfarben. Das ist alles falsch. Entweder muss ich den Historienfilm also als theatralisches Ereignis zeigen, was Scorsese in Gangs of New York gemacht hat – was mir aber nicht gefallen hat, weil es auf hundert Meter Distanz nach Dekoration ausschaut -, oder ich versuche es mit dem Aufwand eines Visconti, wo alles Original ist und jedes Möbel angeschafft wurde, und das können wir uns nicht leisten.

Standard: Was halten Sie von dem digitalen Realismus, den etwa David Fincher in Filmen wie "Zodiac" praktiziert? Da geht es ja um eine andere Form von Authentizität.

Haneke: Das funktioniert meiner Meinung nach schlecht. Es ist leichter, einen utopischen Film zu machen als einen historischen. Ersterer muss nur glaubwürdig ausschauen, es gibt keine Referenz. Wir wollten uns an den Schwarz-Weiß-Fotos orientieren, die heute ja schon ein Abstraktum darstellen. Wir haben unheimlich viel umgebaut und adaptiert. In dem Dorf gibt es Originalziegelbauten, zugleich aber auch diese DDR-Bauten aus den 50er- und 60er-Jahren, die wir alle verkleidet haben. Und wir haben auch über 60 Digitaltricks im Film. In dem Gutshof, wo das Haus des Verwalters steht, gab es Wellblech-Eternit aus den 50er-Jahren. Das konnten wir nicht austauschen, weil es hunderte Quadratmeter waren. Das wurde Bild für Bild wegretouchiert. Das hat den Film nicht billig gemacht.

(DER STANDARD/Printausgabe, 23.09.2009)