Amos Elon, Historiker, Journalist, Autor (Israel), aufgenommen in New York, November 2002

"Ich fand nur eine lange Serie von Aufwärts- und Abwärtsbewegungen, manchmal mehr aufwärts, die ganz anders hätte enden können."

Foto: DER STANDARD/Michael Freund

DER STANDARD: Haben Sie „Zu einer anderen Zeit. Portrait der jüdisch-deutschen Epoche (1743-1933)“ (Hanser, München März 2003) eher geschrieben, um ein persönliches Interesse zu befriedigen, um eine Lücke zu füllen oder um eine Hypothese zu überprüfen?

Elon: Aus all diesen Gründen. Es stecken Elemente von alledem drin. Das Thema des Buches ist die seltsame, einseitige Liebesbeziehung, die es zwischen den Juden und den Deutschen gab.

DER STANDARD: War die immer so einseitig?

Elon: Nicht immer, aber immer mehr, vor allem gegen Ende. Da gab es diese Ironie, dass andere Europäer im 19. Jahrhundert die Deutschen hassten, beneideten, fürchteten, während die Juden die Einzigen waren, die sie liebten. Und das galt sicherlich auch für Österreich und ganz Osteuropa – nämlich dass auch die polnischen, russischen, galizischen Juden Deutschland mochten.

DER STANDARD: Aber das war immer ein bestimmtes Deutschland. Nicht Bismarck, sondern Goethe.

Elon: Natürlich. Und aus diesem Grund könnte man auch sagen, dass die Juden entdeckten, dass deutsche Sprache und Kultur ihre wirkliche Heimat waren. Das Goethesche Ideal von Bildung (im Original auf Deutsch) and self-improvement: Als die Juden das Ghetto verließen, in dem sie eine sehr geschlossene nicht nur religiöse, sondern auch kulturelle Gemeinschaft gebildet hatten, da verglichen sie sich mit Wilhelm Meisters Lehrjahre. Sich selber zu verbessern, hieß, deutsch zu werden – sie nahmen das als Maxime an. Das Buch handelt auch von den verzweifelten Versuchen der jüdischen Intellektuellen – um die es je hauptsächlich geht -, ....

DER STANDARD: Obwohl Sie immer wieder betonen, dass eine sozusagen schweigende Mehrheit unter den Juden gab, die ganz normal ihr Leben lebten, ohne in irgendeiner Weise besonders hervor zu treten.

Elon: Schon, aber sagen wir: Das Buch ist wie ein dicker Zopf aus mehreren Strähnen; die nehme ich teils willkürlich, teils weil ich meinen Sympathie folgte. Also diese Intellektuellen mögen nicht typisch oder emblematisch sein, aber mein Buch sollte auch keine soziologische Studie sein, sondern ein Stück Geschichte. Und als solches kann es gut mit den besonderen, einzigartigen Personen leben. Was mich an den Persönlichkeiten so faszinierte, war – und jetzt komme ich auf die verzweifelten Versuche -, dass sie ihre ganze Energie darauf verwendeten, den deutschen Patriotismus zu zivilisieren. Zum Beispiel, indem sie halfen, die Trennung von Kirche und Staat und eine säkulare, multikulturelle Gesellschaft zu etablieren. Das misslang ihnen, aber in dem Versuch lag eine grandeur und, wenn man will, eine ganz eigene Tragödie.

DER STANDARD: Eine Kritik Ihres Buches in der New York Review of Books bemängelte, dass Sie nicht mit der Katastrophe beginnen und die Geschichte nicht im Licht dieser Katastrophe erzählen. Tatsächlich sehen Sie den Hergang vorsichtiger, ohne Prädestination sozusagen.

Elon: Richtig. Ich habe Goldhagen nicht erwähnt, aber er gehört in diesen Zusammenhang. Ich habe geschrieben, dass andere, vielleicht bessere Autoren als ich gemeint haben, dass es einen Rhythmus, ein unentrinnbares Schicksal in der deutschen Geschichte gibt, das von Luther bis Auschwitz reicht. Goldhagen war ja nicht der erste, der das nahe legt. Schon William Shirer (Aufstieg und Fall des Dritten Reichs) propagierte das. Ich jedenfalls hatte nicht diesen Eindruck. Ich fand nur eine lange Serie von Aufwärts- und Abwärtsbewegungen, manchmal mehr aufwärts, die ganz anders hätte enden können. Ohne den Ersten Weltkrieg, der diese Gleichung der Kräfte sicher am meisten beeinflusste, hätte es keinen Hitler gegeben, keinen Stalin, vielleicht keine Nazis und Kommunisten.

DER STANDARD: Das Buch wird nicht nur ins Deutsche übersetzt, sondern auch ins Italienische, Französische, Hebräische.

Elon: Schon bevor ich an daran arbeitete, interessierten sich die Verlage in diesen Ländern und auch in England für das Projekt. Ich glaube, ein Grund für das Interesse hat mit folgendem zu tun: In der Weimarer Republik, gerade gegen Ende, fand eine Art Renaissance-Periode statt. Die damaligen jüdischen Intellektuellen stellten die säkulare Blüte Europas dar. Freud nannte Spinoza einmal (Deutsch:) „meinen großen Unglaubensbruder“. Diese damalige Blüte zieht heute italienische genauso wie französische oder amerikanische Intellektuelle an – oder deutsche. Diese ungewöhnliche Gruppe von Menschen damals, liberal in ihren politischen Anschauungen, mit großer humanistischer Bildung: Das hat einen Eindruck hinterlassen, der sich heute auswirkt.

DER STANDARD: Nämlich?

Elon: Ich denke, dass aus den genannten Gründen die Juden im heutigen Europa eine privilegierte Gruppe darstellen. Die meisten von ihnen, vor allem in Frankreich und in Italien, gehören der oberen Mittelschicht an, viele sind prominent – das ist ein großer Wandel seit dem 19. Jahrhundert. Und in Amerika ist es dasselbe, vor allem im akademischen Bereich, wo es vor 40 Jahren noch einen Numerus clausus für Juden gegeben hat.

DER STANDARD: Sie betonen, dass Sie nicht als Soziologe an das Thema herangegangen sind. Hat die zahlreiche soziologische Literatur Ihnen dennoch beim Schreiben geholfen, und sei es nur, um Ihre Einzelbeobachtungen vor einem größeren gesellschaftlichen Hintergrund zu relativieren?

Elon: Ich glaube, ich habe fast alles gelesen in den fünf Jahren, in denen ich an dem Buch arbeitete. Natürlich gibt es eine enorm umfangreiche Literatur, allein auf Englisch viele Hunderte Bücher; von den deutschen Quellen ganz abgesehen, den ungezählten akademischen Arbeiten – endlos! Und unglaublich detailliert. Was mich besonders interessierte, waren die vielen Biografien. Und ich hätte ruhig noch mehr vertragen, aber wie Sie wissen, ist Biografie keine besondere Kunstform im Deutschen.

DER STANDARD: Ich wusste das nicht.

Elon: Die Amerikaner und Engländer können das besser. Aber wenn Sie mich fragen, was mich unter den vielen Quellen wirklich beeindruckte, dann würde ich als erstes die „Schriftenreihe des Leo Baeck Instituts“ nennen. Das sind inzwischen 30 oder 40 dicke Volumina: Die Juden im Kaiserreich, im Weltkrieg, in Weimar, alles Mögliche. Dazu ihre Jahrbücher, das sind Essay-Sammlungen zu Spezialthemen. Und jetzt haben Sie mir die auch in CD-ROM-Form gegeben.
Meine anderen Hauptquellen waren, wie gesagt, die Biografien, und die Archive des Baeck Instituts; da liegen rund 50.000 Oral-History-Dokumente, fast zur Gänze ungenutzt. Und noch etwas zu den Quellen: Die meisten heutigen Studien etwa über das Deutschland des 19. Jahrhunderts, über die Zeit des Zweiten Kaiserreiches, wollen die Wurzen des darauffolgenden Desasters entdecken und nicht, um die Periode aus sich selbst heraus zu verstehen.

DER STANDARD: Natürlich kann man immer etwas finden.

Elon: Ja, aber auch das Gegenteil.

DER STANDARD: So, wie ich Ihr Buch verstanden habe, wollten Sie sich lieber überraschen lassen. Eine Prämisse für ein Unternehmen wie das Ihre ist die Frage, wer überhaupt ein Jude ist. Sie übernehmen die Definition Sartres, dass ein Jude ist, wer von den anderen für einen solchen gehalten wird.

Elon: Ja, auch wenn es jemand wie Charlie Chaplin ist, der gar keiner war. Der Zentralverein der deutschen Juden veröffentlichte in einem verzweifelten Versuch 1933 eine 1.200 Seiten lange Liste von allen möglichen Leuten, die Juden und die keine Juden waren. Das Buch wurde natürlich bald eingestampft.

DER STANDARD: Sie erwähnen den deutschen jüdischen Publizisten Moritz Goldstein, der 1912 in einer Zeitschrift erklärte, dass die deutsche Kultur „nun weitgehend von Juden verwaltet“ werde. Sie halten dem entgegen, dass diese Dominanz keineswegs so klar war (und dass es interessant wäre, einmal die Geschichte der nicht prominenten, der „dummen Juden“ zu schreiben). Wie kann man zwischen den beiden Polen navigieren: zwischen der Meinung, es habe gar keine herausragende Sonderstellung gegeben, und der behaupteten Dominanz?

Elon: Die Emanzipation war wie ein hoher Damm, der brach, und eine Flut von Energie wurde frei. Freud sagte einmal, das sei wie jemand, der sich 2000 Jahre lang auf die Aufnahmeprüfung vorbereite – aber das ist nur ein dummer Witz. Der tatsächliche Grund dürfte gewesen sein, dass die jüdische eine Buchkultur war. Es kam zwar wenig dabei raus, wenn man immer wieder dieselben Stellen des Talmud oder der Bibel las und interpretierte. Aber es schärfte den Verstand. Und als diese Traditionen und Talente sich in einer freien Gesellschaft entfalten konnten, hatte das beeindruckende Folgen. Das stimmt auch in Amerika. In Deutschland aber passierte es ein dreiviertel Jahrhundert früher, nach allen Maßstäben, die man anlegt. Von den beruflichen Karrieren in allen Sparten bis zu Mischehen: Die war im späten 19. Jahrhundert im Deutschen Reich so hoch wie in Amerika erst um 1970!

DER STANDARD: Wenn man den „Zusammenhalt“ als ein Kriterium für gesellschaftlichen Erfolg hernimmt, dann fallen einem andere, mehr oder weniger stammeshafte Kulturen ein, die ähnlich kohäsiv zu sein scheinen: die Italiener, die Koreaner in Amerika ...

Elon: Aber das stimmt ja nicht, nämlich damals nicht: Die Geschäftsleute mögen zwar diesen Zusammenhalt gehabt haben, aber nicht etwa die jüdischen Wissenschafter, Schriftsteller, Künstler. (Deutsch:) Mit wem hat sich Einstein zusammengehalten, um Gottes willen? So etwas funktioniert nur in der Geschäftswelt, und warum: weil diese Welt auf Vertrauen beruht. Wenn du dein Wort nicht hältst, wirst du nur schwer auf die Dauer Erfolg haben.

DER STANDARD: Sie betonen die Ähnlichkeiten von Deutschen und Juden in der von Ihnen behandelten Periode. Was ist mit den Unterschieden? Was ist mit den Klischees, die man sozusagen retroaktiv anwenden könnte: die protestantische Kultur vs. die eher levantinische Kultur, die Unterschiede in der Interaktion, personal space, Körpersprache? Was ist mit dem Humor?

Elon: Das ist schon wichtig, vor allem der Humor. Auch die Ironie. Aber wissen Sie, die merkwürdige Sache ist die: Alle diese Leute, über die ich schreibe – von Heine bis Kraus –, waren deutsch und jüdisch und zugleich extrem ambivalent beidem gegenüber. Das war ein jüdischer Zug, der muss kulturelle, geschichtliche Wurzeln haben. Es war auch ein Abwehrmechanismus, der jüdische Humor – ein Galgenhumor.

DER STANDARD: Sie treffen, wie viele andere Autoren, Unterscheidungen zwischen den assimilierten und den Ostjuden, beschreiben auch die Animositäten zwischen diesen Gruppen. Aber was ist mit den Deutschen? Die waren ja auch nicht ein Volk, die Bayern sind keine Preußen, die Kölner sind ganz anders als die Hamburger: Verdient das nicht auch, etwa in deren Verhältnis zu den Juden, eine genauere Betrachtung?

Elon: Ich hab das nicht getan, weil die meisten Juden unter preußischer Herrschaft lebten; auch die wichtigen Gemeinden Mainz und Speyer waren damals preußisch. In Bayern lebten relativ wenige Juden. Einige der Hansestädte, Hamburg zum Beispiel, waren für Juden offen, Bremen war es nicht. Im Hamburg lebten des 18. Jahrhunderts fast 10.000 Juden, in Frankfurt nur 3.000. Die meisten von ihnen waren arm, fahrende Händler, Wanderjuden. Der Grund, warum sie wanderten, war, dass sie für die Aufenthaltsgenehmigung in einer Stadt besondere Steuern hätten zahlen müssen. Wer das nicht konnte, war auf die Bereitschaft kleinerer Orte angewiesen, sie aufzunehmen.

DER STANDARD: Sie sagen an einer Stelle in Ihrem Buch, dass es zu einem gewissen Zeitpunkt in Deutschland eine fast „krankhafte“ Neugierde an jüdischen Erfolgsgeschichten gab, die dann entsprechend übertrieben wurden. Woher, meinen Sie, kam diese Neugierde?

Elon: Vom Antisemitismus, von einer Kombination aus Vorurteil und Klassen-Snobismus. Von der Tatsache, dass doch so viele Juden Erfolg hatten – dafür mussten sie den Preis zahlen. Was man übrigens oft vergisst, ist, dass ihr Erfolg als Unternehmer nichts Einzigartiges hatte. Man findet ihn bei vielen Minderheiten: zum Beispiel bei den Deutschen in Osteuropa – man denke an die Karrieren deutscher Händler und professionals (Ärzte, Anwälte etc.) in den baltischen Ländern, in Polen und in Russland. Die Spitzenbeamten und die Generalität des Zarenreichs: Das waren alles Deutsche! Oder nehmen wir die Armenier in der Türkei, oder die Chinesen in Südostasien. Oder die Schotten in England. Den Schotten wird nachgesagt, dass sie die moderne Welt erfunden haben; gemeint sind Adam Smith, Hume und viele andere. Die Aufklärung begann nicht in Frankreich, sondern in Schottland. Der große Unterschied jedoch war, dass die Juden, anders als die Schotten oder die Armenier, auch an vorderster Front liberaler und demokratischer Politik standen; sie wollten eine Gesellschaft, in der Staat und Kirche getrennt waren. Das war ihr Beitrag. Sie waren nicht besser oder klüger. Sie taten’s aus schierem Eigeninteresse. Was sonst hätten sie tun sollen? Darum entwickelte ich mein Buch als Strähnen eines Zopfes. Jede Strähne eine Geschichte. Die Welt besteht aus Geschichten, der Rest ist Theorie.

DER STANDARD: Welche Rolle hat Österreich für Sie beim Verfassen gespielt?

Elon: Es gibt viel über Österreich, schon allein wegen der Herkunft Herzl, der im übrigen auch Deutschland sehr bewunderte; wie viele damals. Herzl sagte einmal, als er mit der deutschen Regierung über ein Protektorat verhandelte – das sie ihm zunächst versprochen hatten: „Dank dem Zionismus werden wir Deutschland wieder lieben, wie wir es in Vergangenheit geliebt haben.“ You know, these were alle verkappte Germans. Vor allem Herzl.

DER STANDARD: Das war im späten 19. Jahrhundert. Das Buch beginnt 1743. Und Josef II. zum Beispiel erwähnen Sie nur am Rand. War die Entwicklung im Habsburgerreich nur eine weniger wichtige Strähne?

Elon: Ich komme auf diese Strähne zu sprechen an der Stelle, wo es um die Bedeutung der Juden für die Kunst und Wissenschaft in Österreich geht. Dazwischen gab es nicht so viel.

DER STANDARD: Aber immerhin eine zu Deutschland parallele Entwicklung. Angefangen bei den Rothschilds ...

Elon: Naja, die habe ich nicht prominent vorkommen lassen, weil ich über sie schon ein Buch geschrieben habe.

DER STANDARD: Immerhin waren sie unter anderem für die Entwicklung eines Klischees wichtig.

Elon: Das stimmt. Ich habe einiges über Karl Kraus im Buch. Nicht nur, weil ich ihn für seine Arbeit allgemein hoch schätze, sondern vor allem, weil er offenbar die einzige öffentliche Stimme in allen deutschen Ländern war, die sich von Anfang an gegen den Ersten Weltkrieg stellte. Ich frage mich, ob das daran lag, dass die Zensur in der k.u.k. Monarchie irgendwie ...

DER STANDARD: ... schlampiger war?

Elon: Ja, oder einfacher zu durchbrechen. Oder vielleicht hat er sie einfach übertölpelt, indem er vor allem die Intellektuellen attackierte, die den Krieg verherrlichten. Vielleicht hat das dem Anti-Intellektualismus der Bürokratie gefallen. Ich denke, in Deutschland hätte das nicht funktioniert. Stefan Zweig wurde erst gegen Ende des Kriegs zum Pazifisten. Sogar Freud war in den ersten Wochen sehr vom Aufbruch bewegt.

DER STANDARD: Auch heute lassen sich ja viele Persönlichkeiten zu allem Möglichen bewegen. Wenn man sieht, wie fast alle Senatoren in den USA die Einschränkung der Bürgerrechte, den Homeland Security Act gutheißen ...

Elon: Sicher. Allerdings. Das ist fast eine Art (auf deutsch:) Ermächtigungsgesetz. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 29./30.3.2003)