Der Anlass für Jelineks Intervention: Die Ausstellung "Was damals Recht war ...", die heute Abend in Wien eröffnet wird.

Foto: Mayr

Die Macht hat immer schon entsetzlich zugeschlagen, und man hat es ihr erlaubt, zu allen Zeiten. Der Machtlose hatte zu bezahlen. Es gibt verschiedene Grade der Machtlosigkeit, doch sie leiten sich alle von der jeweiligen Macht und ihrem Charakter ab. Im heutigen Denken wird die Macht anders gewertet, und der völkerrechtswidrige Angriffs- und Vernichtungskrieg der Deutschen Wehrmacht wird heute auch von konservativen (nicht von rechtsradikalen oder rechtsextremistischen) Parteien geächtet.

Das ist noch nicht lange so. Man denkt sofort an das beinahe sprichwörtliche, von keinem Unrechtsbewusstsein getrübte Wort des unseligen Marinerichters Filbinger: "was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein", mit dem er die von ihm ausgesprochenen Todesurteile gegen Deserteure nein, nicht rechtfertigen (in seinen Augen gab es da ja nichts zu rechtfertigen), sondern zu, ich weiß nicht, "beschreiben" suchte, nein, auch nicht suchte, denn ein solcher Mensch ist prinzipiell kein Suchender, er hat sein Urteil ja schon gefunden und sah nie, auch Jahrzehnte nach dem Krieg noch nicht, einen Anlass, es zu revidieren. Denn ein Rückgängigmachen von etwas, das gefällt worden war (es waren aber Menschen, die "gefällt" wurden, durch alle möglichen Vollstreckungsarten, vom Erhängen, der ehrlosesten, vorgesehen für die damals "Ehrlosesten", die aus politischer Überzeugung Desertierten, bis zum Enthaupten und Erschießen; die Menschenfäller gingen damals gegen Deserteure vor wie die Holzfäller gegen den Wald. Und im Macbeth sind es ja Menschen, Soldaten, die, wiederum als Wald verkleidet, gegen das Schloss von Dusinan anstürmen, nur wird dieses Bild der Soldaten als Bäume zuerst, nur mit Worten, für eine Grenze verwendet, für etwas Undenkbares, denn Macbeth hat ja angeblich nichts zu fürchten, bis Birnams Wald sich in Bewegung setzt.

Nun, genau das geschieht ja auch in diesem Stück: Der Menschenwald kommt aufs Schloss zu, obwohl genau das eben unvorstellbar ist), kam für die Filbingers nicht in Frage. Hohe Ämter kamen für sie in Frage, ihre Opfer waren ja tot. Aber seit dem Marinerichter Filbinger ist die entsetzliche Ernte, die unter Deserteuren (sie hatten sehr viele unterschiedliche Gründe zu desertieren, von der Sorge um die Familie und dem Überdruss am Töten bis eben zur politischen Überzeugung), ins öffentliche Bewusstsein eingesickert.

Die Rehabilitierung dieser durch die damalige Staatsmacht ermordeten Menschen (nur wenige haben überlebt und konnten und können jetzt ihre Rechte durchsetzen, was lange gedauert hat, viel zu lange) muss aber im öffentlichen Bewusstsein immer noch vorangetrieben werden. Der Deutsche Bundestag hat einen großen Teil der Urteile gegen sie erst 2002 aufgehoben, doch erst jetzt, im August 2009, werden die ausständigen Kriegsverratsurteile pauschal aufgehoben. Nicht nur die Witwen ehemaliger SS-Angehöriger waren zu entschädigen, und die haben nie um etwas kämpfen müssen. Denen wurde sofort gegeben. Ihre Männer hatten ja den Tod gegeben, gib, so wird dir gegeben, heißt es.

Und in Österreich? Dem sogenannten "ersten Opfer" der Nazis? Einmal Opfer - immer Opfer. Nur müssen es halt die richtigen Opfer sein. Großer Eifer und große Eile haben bewirkt, dass immerhin im Jahre 2005 (!) das "Anerkennungsgesetz 2005" verabschiedet wurde, doch ohne dass die Worte Deserteur bzw. Desertion hätten auch nur erwähnt werden dürfen, obwohl es dabei ausschließlich um die Desertion aus der Deutschen Wehrmacht ging. Die damalige Koalition mit der äußersten Rechten hatte es geschafft, dass alle Kriegsopfer, Bombenopfer, Mitläufer, Täter und Mörder über einen Kamm geschoren werden durften. Alles Opfer. Österreich als Land schon mal Opfer, damit fangen wir an. Aber da kommen auch noch andre Opfer dazu, würdigere Opfer in den Augen der Regierung (würdiger als Deserteure - kein Zweifel!), in erster Linie die "Trümmerfrauen" (eigentlich Mütter, denn Mutterschaft war die Voraussetzung, um überhaupt Trümmerfrau werden zu dürfen) sowie alle Kriegsgefangenen, und alle haben sie eine kleine Prämie bekommen, eine Anerkennungsprämie bzw. Entschädigung. Aus der Sühneleistung, zu der die Alliierten ehemalige Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten verpflichtet hatten, wurde im 21. Jahrhundert eine Art Anerkennungsprämie für besondre Leistungen beim Wiederaufbau. Große Opfer waren damals gebracht worden! Seniorinnen, ehemalige Heldenmütter (zumindest waren sie dazu vorgesehen), eilten aus allen Richtungen herbei, sie wurden sogar ausdrücklich dazu aufgerufen. Die Ministerin Ursula Haubner hat sich dabei ausgezeichnet. Knapp 60.000 Frauen suchten um diese Prämie an. Kein Regierungsvertreter machte die Deserteure der Wehrmacht jemals auf die Möglichkeit aufmerksam, um Opferfürsorge anzusuchen. Bislang haben 19 Betroffene entsprechende Anträge gestellt.

Ich stelle mich an die Seite der Toten und der wenigen, die noch leben, die meiste Zeit ihres Lebens jedoch als Feiglinge, Drückeberger, Kameradenschweine und Schlimmeres bezeichnet worden sind. Das haben sie sich gefallen lassen müssen. Als hätte die Wirklichkeit einer Unrechts-Macht die Wirklichkeit der Nachkriegszeit bestimmt, sogar bis ins 21. Jahrhundert hinein. Als würden Militärjuristen der Nazis mit ihrer totalen Unterwerfung unter den Willen des "Führers", Richter, die ihre richterliche Unabhängigkeit nur zu gern aufgegeben hatten, als würden diese willigen Vollstrecker im Bewusstsein der Öffentlichkeit bis heute im Recht sein, und richtig Recht gesprochen haben. Die Wirklichkeit bestimmt das Sein, doch im Fall der Verurteilung und staatlich sanktionierten Ermordung von Deserteuren scheint sich die Wirklichkeit, eine Blutspur hinter sich herziehend, bis ins Heute geschleppt zu haben, das sie keuchend erreicht hat, während alle andren, die Getöteten, vor langer Zeit schon zurückbleiben mussten. Nur wenige sind bis ins Heute gekommen, immer noch von vielen verachtet und von der Gerechtigkeit abgeschnitten. Als würde die damalige Wirklichkeit auch eine heutige sein (und für manche ist sie das leider auch noch). (Elfriede Jelinek/DER STANDARD, Printausgabe, 1. 9. 2009)