Deserteur vor Wehrmachtsgericht: Insgesamt fällte die NS-Militärjustiz 30.000 Todesurteile.

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Berlin/Wien - Wenn der Bundestag am 8. September zu seiner letzten Sitzung vor der Wahl zusammenkommt, steht ein emotionales Thema auf der Tagesordnung. Einstimmig werden 64 Jahre nach Kriegsende pauschal alle Urteile aufgehoben, die in der NS-Zeit wegen "Kriegsverrats" ergingen. Als "Kriegsverräter" galten Menschen, die Juden versteckten, Kriegsgefangenen halfen oder den Alliierten Informationen zuspielten.

"Für uns geht damit ein Traum in Erfüllung. Es ist ein großer abschließender Schritt" , sagt Ludwig Baumann, Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz. Baumann selbst war Wehrmachtssoldat und desertierte 1942, wofür er zu einer Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Er und tausende andere Deserteure wurden 2002 vom Bundestag rehabilitiert. "Kriegsverräter" aber wurden vom damaligen Beschluss ausgenommen. Auch der damaligen rot-grünen Regierung galt "Verrat" als Vergehen. Forschungen an 64 Fällen ergaben jedoch, dass in keinem Fall Kameraden zu Schaden kamen, es sich meist um Akte des zivilen Widerstands handelte.

Wie viele Menschen nun mit diesem Beschluss rehabilitiert werden, ist unklar, "Kriegsverrat" wurde mit dem Tod bestraft. Insgesamt hat die NS-Militärjustiz 30.000 Todesurteile gefällt, von denen 20.000 vollstreckt wurden. Die späte Wiedergutmachung kommt jedoch noch lebenden Angehörigen zugute. Sie haben nun schwarz auf weiß, dass es in ihrer Familie keinen "Verräter" gibt.

In Österreich kämpft das "Personenkomitee für die Opfer der NS-Militärjustiz" bis heute um "eine Willensbekundung des Gesetzgebers" , die die braunen Urteile über Deserteure, aber auch Homosexuelle und Zwangssterilisierte explizit für null und nichtig erklärt. Zwar wurden hierzulande 1945 und 1946 offene Verfahren, die die Nazis angestrengt hatten, eingestellt und diese Entscheidung des Nachkriegsösterreich 2005 im "Anerkennungsgesetz" noch einmal festgehalten, aber: "Das war quasi bloß eine Wiederverlautbarung" , erklärt Thomas Geldmacher von dem Verein.

Dass Opfer der Militärjustiz auch nach der NS-Zeit stigmatisiert waren, erklärt er am Beispiel von H. C. Artmann: Einst Postler, im Krieg desertiert, hatte er wegen seiner NS-Vorstrafe keine Chance auf seinen alten Job - und wurde daher Schriftsteller.

Im Justizausschuss liegt seit langem ein Antrag der Grünen auf Rehabilitierung der Opfer, im Justizressort heißt es dazu nur, man führe "derzeit Gespräche über weitere juristische Schritte" . Andreas Khol (ÖVP), ehemaliger Nationalratspräsident, findet übrigens auch, dass Deserteure endlich wie Widerstandskämpfer "gesellschaftlich anerkannt gehören" . Er plädiert zwar für kein neues Gesetz, aber für "eine Durchsicht und Überarbeitung der Schulbücher" . (Birgit Baumann, Nina Weißensteiner/DER STANDARD-Printausgabe, 29./30. August 2009)