Richard Obery, "Die letzten zehn Tage" . € 13,40/159 Seiten. Pantheon, München 2009

Coverfoto: Pantheon Verlag

Richard Overy, britischer Experte für den Zweiten Weltkrieg, hat sich der Mythenzerstörung verschrieben. Zumindest wurde ihm das von seinem berühmteren Kollegen, dem 1990 verstorbenen A.J.P. Taylor, attestiert. Overys Band Die letzten zehn Tage untersucht, passend zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs, den konkreten Zeitraum vom 24. August bis zum 3. September 1939. Eine "Phase instabiler Interaktion" nennt er das diplomatische Taktieren rund um den deutschen Angriff auf Polen am 1. September, als um 4.45 Uhr die "Schleswig Holstein" vom Danziger Hafenkanal aus die Festung auf der Westerplatte beschießt, als Hitler "Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen" durchs Radio lügt und der britische Kriegsminister Hore-Belisha "Verdammte Deutsche, einen auf dieses Art zu wecken" im Tagebuch vermerkt.

Obwohl der Krieg längst in der Luft liegt, sind die Gegner bis zuletzt auch vom Wunschdenken beseelt, dass der jeweils andere nachgeben könnte. Dass, aus Hitlers Sicht, Großbritannien und Frankreich entgegen ihrem Bündnis mit Polen nach einem deutschen Angriff auf eine Kriegserklärung verzichten könnten. Dass, aus Sicht der Westmächte, Hitlers Kriegsgeschrei nur ein weiterer Bluff sein könnte. Doch der plante längst die Zerstörung des polnischen Staates, das Agieren entsprang der Rassenpolitik des Regimes, keinen militärischen Überlegungen. Die Freistadt Danzig, die Hitler haben wollte, war nur ein Glied der Kette, die Europa in den Abgrund riss.

Hauptakteure der "instabilen Interaktion" sind neben Hitler der britische Premier Neville Chamberlain und Frankreichs Staatschef Édouard Daladier sowie deren Außenminister. Zwischen Hitlers Sabotageversuchen am Bündnis zwischen Polen und den Westmächten und Friedensbemühungen von mehreren Seiten (auch in Hitlers Apparat gab es eine "Opposition" , die versuchte, das Schlimmste zu verhindern) steuerten die Staaten wie ungelenke Ozeanriesen auf die Katastrophe zu.

Zusteuern auf die Katastrophe

Overy will zwar zeigen, dass "nichts in der Geschichte unausweichlich ist" , doch beschreibt er für die wenigen Tage vor dem Krieg ein Szenario, in dem die Grundinteressen - Hitlers Eroberungspläne, das Bündnis der Westmächte mit Polen - durch diplomatische Pirouetten in letzter Minute kaum aufgeweicht werden konnten. Im Gegenteil, er nimmt Chamberlain und Daladier, die üblicherweise unter dem Verdacht stehen, noch zu mehr Beschwichtigungspolitik ("Appeasement" ) anstelle einer Kriegserklärung geneigt zu haben, in Schutz. Mit dem Argument, dass sie sich kaum über Machtapparate und öffentliche Meinung hinwegsetzen hätten können. So oder so: Polen hatte sich von ihrer Kriegserklärung am 3. September mehr erwartet: "Im Ergebnis wurden die Polen durch den Krieg ebenso betrogen wie die Tschechen durch den Frieden" , schreibt Overy.

Hitler bleibt die größere Variable der historischen Rechnung. Schon aufgrund der offenen Frage, ob er 1939 nur einen begrenzten Krieg gegen Polen wollte oder sich im Lauf des Jahres zu einem allgemeinen Krieg entschied, der sich auch gegen den Westen richtet. Auch sein revidierter Marschbefehl auf Polen vom 26. August 1939 bleibt rätselhaft.

Overys präzise, komprimierte Darstellung stemmt sich rhetorisch genüsslich gegen jenes, was "gemeinhin" angenommen oder "gern außer Acht gelassen" wird. Dafür verzichtet er darauf, Lücken im Allgemeinwissen zu stopfen. Wer nicht mehr so genau über die Ergebnisse des Münchner Abkommens von 1938 Bescheid weiß, erfährt es auch von Overy nicht. (Alois Pumhösel/DER STANDARD, Printausgabe, 29./30. 8. 2009)