Erst ab Mitternacht gleicht Islingtons Süden einer Geisterstadt. Rund um das Londoner Canal Museum stehen Bürogebäude.

Foto: London Waterscape

"Mary, Sweetheart, gib uns ein Zeichen. Irgendein Zeichen. Oder hast du Angst vor uns? Willst du nicht, dass wir hier sind?" Roy Roberts' Stimme durchschneidet die Dunkelheit wie eine rostige Kreissäge. Der Mann, schwarzer Anzug, schwarze Hornbrille, kurze rote Stoppelhaare, reckt sein Ohr in die Stille. Es bleibt still. Mary jedenfalls gibt kein Zeichen. Irgendwo klatscht ein Wassertropfen auf den steinigen Untergrund im London Canal Museum, einem kleinen Ziegelstein-Bau im Stadtteil Islington.

Es ist kurz vor Mitternacht. Kühle Luft umweht die Beine der fünf, die einen Kreis gebildet haben und sich an den Händen halten. Es scheint einiges los zu sein in dem Raum - auch wenn für die meisten der Anwesenden nichts zu sehen und nichts zu hören ist. Für Roberts ist im Canal Museum aber offenbar der Teufel los. "Hier wurden sehr viele Morde begangen", sagt er mit einem dämonischen Grinsen. Erst vor wenigen Tagen will er herausgefunden haben, wer Londons berühmtester Schlächter, Jack the Ripper, wirklich war. Nun will das Medium erkunden, wer im Canal Museum sein Unwesen treibt. Von diesem alten Gemäuer, das früher als Lager für importiertes Eis aus Norwegen diente, wird berichtet, dass es dort spuken soll.

Obskures in allen Kanälen

London ist ein guter Ort für Geister und Gespenster. Am Regent's Canal mit seinen Tunneln und in den engen Gassen Islingtons, wo sich stumm die Hauswände anstarren, ist viel Platz für Geschichte und noch mehr für Geschichten. Obskures hat wieder Konjunktur auf der Insel. Most Haunted, eine seit 2002 ausgestrahlte TV-Sendung über paranormale Phänomene, gehört zu den erfolgreichsten britischen TV-Formaten. Und Geisterjagden, bei denen sich "Experten" während der Arbeit über die Schultern schauen lassen, haben in England ohnehin Tradition.

Roberts ist an diesem Tag für "Fright Nights" unterwegs, eine Eventfirma, die seit zehn Jahren in bekannten Häusern, Hotels oder Schlössern Gespenstern nachjagt. "Das wird wieder populärer", meint Richard Felix, ein Historiker, der sich mit den Gespenstern seines Landes seit vielen Jahrzehnten beschäftigt - ohne an ihre Existenz zu glauben. "Mich interessiert das Paranormale nur als Kulturphänomen." Gerade in Zeiten der Krise, sagt Felix, habe das Paranormale wieder Konjunktur. "Das war schon nach dem 11. September so. Die Menschen verlieren den Boden unter den Füßen. Ihr alter Lebensentwurf geht verloren. Und dann gibt man dem Unerklärlichen automatisch mehr Raum. Das ist nur menschlich." Zudem: "In Zeiten der Krise fahren die Engländer weniger oft in Urlaub. So kommt die Geisterjagd als Freizeitgestaltung wieder infrage."

Bestes Publikumsmedium

Der forsche, redselige Roberts trägt übrigens den Titel "Bestes Medium Londons". Den hat er sich bei einem Wettbewerb à la Starmania erkämpft. Vor Publikum und einer dreiköpfigen Jury musste Roberts beweisen, dass er einen besonders guten Draht zur Geisterwelt hat, indem er Zuhörern im Publikum möglichst korrekte Botschaften von deren Verblichenen überbrachte. Roberts überzeugte. Egal, ob man nun an seine Fähigkeiten glaubt, eines muss man zugeben: Der Mann ist ein geborener Entertainer. Auch im Canal Museum gibt er sich redlich Mühe, die Geisterwelt wenigstens vor dem geistigen Auge der Besucher erscheinen zu lassen. Er habe sich lange nicht um das geschert, was er eine Fähigkeit nennt, erzählt er später betont unprätentiös. Erst als er 30 Jahre alt war, habe er beschlossen, sich als Medium ausbilden zu lassen. Häufig würden die Geister mit Gläsern und Möbelstücken nach ihm werfen. "Na ja, so hat eben jeder Beruf seine Risiken."

An diesem Abend sind zwölf Besucher ins Canal Museum gekommen. Niemand glaubt an die Existenz von Geistern. Nur einer hat bereits ein wenig Erfahrung als Geisterjäger gesammelt. In Cornwall sei er vor ein paar Jahren gewesen, auf einem Schloss. Ob er dort Geister gesehen habe? "Nicht direkt", sagt er. "Aber Schatten, seltsame Geräusche und Lichter."

Letztlich bleibt es auch hier bei ein bisschen Spannung und Show. Roberts sagt nur: "Ich muss mich nicht mehr beweisen. Das habe ich schon häufig genug getan. Ich hoffe, ihr hattet dennoch Spaß." Beim Abschied ruft ein Gast dem Nachtwächter zu, er solle die Gespenster doch bitte grüßen, wenn er sie später noch zu Gesicht bekomme. Der Nachtwächter lacht nicht. Er lächelt nicht einmal. Sein kühler Blick scheint zu sagen: Wenn ihr nur wüsstet! (Ingo Petz/DER STANDARD/Printausgabe/22.8.2009)