Matthias Hartmann (Mi.), flankiert von einem Stubengelehrten (Tobias Moretti, li.) und einem echten Teufel (Gert Voss): auf den Spuren eines deutschen Brachialtäters.

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Standard: Warum beginnen Sie Ihre erste Burgtheater-Saison mit der "Deutschen liebstes Stück"?

Hartmann: Ist es das? Lesen Sie bei Nietzsche nach: Ein Professor aller vier Fakultäten verführt eine kleine Näherin und stürzt sie ins Unglück. Ohne Hilfe des leibhaftigen Teufels hätte er das wohl nie geschafft. Sinngemäß gesprochen fragt Nietzsche: "Das soll jetzt der größte tragische Gedanke der Deutschen sein?"

Standard: Das erklärt noch nicht, warum Sie ausgerechnet "Faust II" in den Eröffnungsabend herüberziehen. Sie müssen doch eine zusammenhängende Geschichte aus den Teilen bestreiten, die der greise Goethe aus seinen Schreibtischschubladen herauszog.

Hartmann: Ich habe nichts "herübergezogen" , der Plan war von Anfang an, den ganzen Faust zu machen. Ich will durchaus mit einem gewissen Aplomb hier in Wien beginnen. Mir war schon klar, dass es geschicktere Weisen gegeben hätte, ein Theater zu eröffnen. Man hätte einen Text nehmen müssen, der nicht so überprüfbar ist. Vielleicht wirkt die Veranstaltung daher erst einmal großkotzig. Aber ich dachte: Nach 30 Jahren ohne Faust in Wien hisst du erst einmal deine Fahne am Burgtheater! Da wird es viele geben, die sich daran abarbeiten - da bin ich übrigens schon auf das Schlimmste gefasst.

Standard: "Großkotzig" zu sein stört Sie in diesem Zusammenhang nicht?

Hartmann: Schon, wie gesagt, aber ich finde in diesem Stoff etwas wieder, was mich in doppelter Hinsicht befriedigt: Wenn ich in meiner Arbeitsbiografie starke Textpartituren vorfand, dann haben mich diese als Regisseur zu einem starken Dirigenten gemacht. Da ziehe ich unterschiedliche Texte als Beispiele heran: Beckett, Fosse, Kleist, Thomas Bernhard - da hat es mich, als modern empfindenden Menschen, immer sofort gereizt, interpretatorisch zu arbeiten. Nun interessieren mich in letzter Zeit immer häufiger Stoffe, die man nicht "aufführen" kann. Dinge, die mir Möglichkeiten bieten, kraft derer ich überhaupt erst auf der Bühne zum "Ko-Autor" werden kann. Bei Faust gibt es beides. Ich habe die gebundene Sprache und die in sich geschlossene Narration im ersten Teil - und der zweite Teil schreit geradezu nach meinem Zugriff als Regisseur.

Standard: Lassen Sie mich raten: Sie werden die "Klassische Walpurgisnacht" weglassen?

Hartmann: Das hat sich tatsächlich jetzt ergeben - ich habe sie gerade eben noch probiert, aber vielleicht kommt sie wieder rein. Für solche unspielbaren Dinge, die ich liebe, habe ich in den letzten Jahren eine Technik entwickelt, mit Kameras zu arbeiten - so, dass verschiedene Perspektiven zu einem überraschenden Bild "zusammengefügt" werden. Das gibt mir die Möglichkeit, mit Kamera-Augen auf der Bühne den Übersetzungsprozess ständig transparent zu machen, den das Theater im Kern ausmacht. Dabei brauche ich keine High-End-Videomaschinerie.

Standard: Das meint doch nichts anderes als: Man kann machen, was man will - die Hilfsmittel aus den entsprechenden, permanent verfügbaren Zeiträumen stehen natürlich auch dem Theatermacher zur Verfügung.

Hartmann: Selbstverständlich, warum sollten uns irgendwelche Erzählmittel verboten sein? Im Theater ist nichts verboten, außer Langeweile. Apropos Low Tech: Zu Hause krame ich gerne alte LPs hervor, lege sie auf meinen Technics-Plattenspieler - und höre Emerson, Lake & Palmer.

Standard: Die?

Hartmann: Die waren ganz gut. Das finde ich doch formidabel, dass meine Neffen und Nichten wieder die Musik meiner Generation hören. The Lamb lies down on Broadway von Genesis ist doch der Hammer! Dass man über die Verfügbarkeit solcher Musik in der Zeit springen kann, entspricht mir auch als Regisseur ungemein. Ich mäandere merkwürdig durch meine künstlerische Biografie: Das hängt damit zusammen, dass ich Spätentwickler bin. Die Schule war hoffnungslos. Ich war der schlechteste Schüler aller Zeiten. Meine Eltern schickten mich daraufhin nach England - wo man von seinen Mitschülern einen mit dem Hockeyschläger aufs Hirn kriegt, wenn man nicht pariert. Als ich nach drei Jahren Aussetzen wieder auf die Schule kam, ging plötzlich alles wie von alleine. So ist es bei mir auch mit dem Theater: Ich habe als Junger, als ein Autodidakt ein relativ starkes Wirkungsgespür für dasjenige gehabt, was auf der Bühne funktioniert. Ich wurde deshalb von Witt, Peymann und Baumbauer nach oben geschossen, an die ersten Häuser. Was passierte? Ich wurde prompt dumm, arrogant, bräsig, und ich blieb stehen. Als ich an dem ganzen Erfolgschaos zu zweifeln begann, ging es freilich erst richtig los. Ich leitete Theater in Bochum und Zürich.

Standard: Sie lassen anklingen: Mit Ihrer "Faust" -Eröffnung sind Sie angreifbar. Woher rühren Ihre Zweifel?

Hartmann: Ich züchte keine Feindbilder. Ich bin nur öfter selbst eines. Ich habe früher manchmal Anlass gegeben zu der Feststellung: Was für ein arroganter Schnösel! Dieses Image passt nicht zu meinem Selbstbild, klebt aber hartnäckig.

Standard: Ja, und Heinrich Faust? Der ewig strebend sich bemüht und darüber zum Wüstling, aber auch zum Kolonialhelden wird?

Hartmann: Dem werden viele positive Eigenschaften nachgesagt, die es erst einmal zu überprüfen gilt. Der Teufel kommt ihm ja kaum hinterher, so schnell stürzt Faust sich von einer Katastrophe zur nächsten, mit beträchtlichem Kollateralschaden: Im ersten Teil löscht er eine ganze Familie, im zweiten die Urbevölkerung eines Küstenstreifens aus. Der Teufel hätte seine Wette locker gewonnen, wenn er zum Schluss nicht durch einen Halunkentrick von oben um seine Beute betrogen würde.

Standard: Warum Tobias Moretti als Faust, warum Gert Voss als Mephisto?

Hartmann: Mit Voss rede ich über diese Idee seit fünf Jahren, der richtige Antipode ist mit Moretti kein deutscher Stubengelehrter, sondern ein getriebener Tatmensch. Kein alter Faust, kein junger Mephisto: eher ein bewährter Teufel, den so ein Fall wie dieser Verrückte ganz schön aus der Puste bringt.

(Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 22./23.08.2009)