Fragile Familienbande: Victor (Paul Blain) und seine Tochter Pamela (Victoire Rousseau) in "Tout est pardonné".

 

Foto: Filmladen

Wien - Vater und Tochter spielen Fangen im Hof eines Wiener Gemeindebaus. Sie unterhalten sich auf Französisch, als schließlich die Mutter dazukommt, wechselt man umstandslos ins Deutsche. Die Unbeschwertheit dieser Szene ist vergänglich. Tout est pardonné (Alles ist vergeben), das Debüt der Französin Mia Hansen-Løve, erzählt von einer Kleinfamilie, die sich auf eine Zerreißprobe zubewegt.

Annette (Marie Christine Friedrich) kommt aus großbürgerlichem Wiener Hause; Victor (Paul Blain) ist ein Autor aus Paris, der zu wenig schreibt. In Wien, wo der Film beginnt, wirkt er fahrig, in der Ordnung von Annettes Familie etwas deplatziert. Dies sind erste Anzeichen einer Krise, die sich in der Folge immer mehr ausweiten wird.

Hansen-Løve deutet die Entfremdung, die das fragile Gleichgewicht des familiären Miteinanders beeinträchtigen wird, mit kleinen Unachtsamkeiten des Vaters an, die der Effekt seiner inneren Rastlosigkeit sind. Er bricht auf unangekündigte Streifzüge durch die Stadt auf; doch was nach der Suche nach ein wenig Freiheit aussieht, stellt sich bald als Folge seiner Drogensucht heraus.

Tout est pardonné entwirft sein Drama nur dem ersten Anschein nach linear. Es gibt darin keine kausalen Verbindungen, keine Fehlleistungen, die zu Konsequenzen führen, sondern ein diffuses Unbehagen, das sich immer mehr aufbäumt. Die zeitlichen Ellipsen, die Hansen-Løve einfügt, gestatten den Figuren eine Autonomie, die die Charaktere noch undurchdringlicher erscheinen lassen.

In ihrem zweiten Film, Le père de mes enfants, der dieses Jahr in Cannes lief, setzt die junge Regisseurin ihre Vivisektion von Familienmodellen fort: Da führt der Selbstmord des Vaters, eines Filmproduzenten, dazu, dass die Hinterbliebenen einander völlig neu wahrzunehmen beginnen. Schon im Debüt liegt die Qualität ihrer Regie darin, dramatischere Entwicklungen nicht breit auszuspielen, sondern mit erstaunlicher Leichtigkeit zu vermitteln. Das lässt den Film zwar ein wenig spröde wirken, erhöht aber auch den Einsatz: Ursachen liegen nicht immer gleich auf der Hand. Was Menschen, die sich lieben, auseinandertreibt, ist die Grundfrage - und wie schwierig es ist, aus eingefahrenen Verhaltensmustern auszubrechen.

Zurück in Paris, wird die Familiensituation in Tout est pardonné immer konfliktgeladener. Noch in diesen Szenen der Zerwürfnisse bewahrt der Film Ambivalenz: Victor übernimmt zwar kaum noch Verantwortung, aber deshalb ist an seiner Liebe nicht zu zweifeln. Seine Sucht, der er immer zügelloser nachgeht, macht die Trennung letztlich unausweichlich.

Der dritte Teil des Films spielt mehr als zehn Jahre später: Pamela (Constance Rousseau) ist mittlerweile ein Teenager - da nimmt der Vater, den sie seit damals nicht mehr gesehen hat, Kontakt mit ihr auf. Ein scheues Wiedersehen, das - durch den Perspektivwechsel auf die Tochter - der Vergangenheit plötzlich ihre Schwere zu nehmen vermag. (Dominik Kamalzadeh / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 21.8.2009)