Berlin/Paris/Rom - Die Wahlen in Afghanistan stehen am Donnerstag im Zentrum der Aufmerksamkeit der internationalen Presse:

  • "Süddeutsche Zeitung" (München):

"Die Afghanen kennen den Unfrieden als Normalzustand. Selbst kurze demokratische Experimente, in der afghanischen Geschichte gar zum 'Goldenen Zeitalter' stilisiert, waren gezeichnet von Orientierungslosigkeit und Gewalt. Die konstitutionelle Monarchie (bis 1973) zu schwach für die widerstrebenden Kräfte im Staat. Dieser war immer Spielball innerer und äußerer Mächte. Aus eigener Kraft konnte er nie bestehen. (...) Was hat der Westen nicht alles falsch gemacht in seinem manchmal naiven Versuch, die Demokratie nach Afghanistan zu bringen. Heute, am Tag der Momentaufnahme, herrscht Ratlosigkeit, und der Blutzoll steigt und steigt. Wofür also das Ganze? Und mit welchem Ziel? Gibt es eine Sehnsucht, gibt es einen Wunsch, der die Menschen in Afghanistan einen könnte? Es gibt den Wunsch nach Frieden und Ruhe - mehr als alles andere. (...)

Den Ausgang des Experiments kann niemand voraussagen - die Realpolitiker nicht, die dem Land noch eine Frist von wenigen Jahren geben und es dann seinem Schicksal überlassen wollen; die militärischen Ausdauerläufer nicht, die Fristen von bis zu 15 Jahren setzen; und auch die zivilen Helfer nicht, die in den ausländischen Soldaten das Übel sehen und zu vergessen scheinen, wie ihre Mitarbeiter von den Taliban hingemetzelt wurden, als es noch keine fremden Soldaten gab."

  • "Frankfurter Rundschau":

"In den USA und Europa ist man entsetzt. (Präsident Hamid) Karzai und der Westen - das ist auch die Geschichte einer enttäuschten Liebe, einer Entzauberung oder auch Demontage. Als die USA Karzai 2001 an die Spitze Afghanistans hievten, schien er der Traumkandidat: Gebildet, eloquent und moderat. Karzai hat ohne Frage tief enttäuscht. Kriminalität und Korruption grassieren, der Drogenhandel boomt. Das Volk darbt, die Mächtigen bereichern sich. Doch kann man die Misere nicht allein ihm anlasten. (...) Im Westen dürfte man über eine Wiederwahl Karzais wenig froh sein. Das Verhältnis zwischen ihm und Washington wirkt frostig. Der Noch-Präsident, verbündet sich mit skrupellosen Warlords, um an der Macht zu bleiben."

  • "die tageszeitung" (TAZ) (Berlin):

"Vermutlich hat inzwischen auch der letzte Idealist begriffen, dass die Wahlen in Afghanistan recht wenig mit dem zu tun haben, was in der westlichen Welt unter Demokratie verstanden wird. Sie sind weder frei und fair, wie es früher hieß, noch 'glaubwürdig, sicher und inklusiv', wie die neueste Formel aus Washington lautet. Ein Großteil der Wählerinnen und Wähler wird durch die schlechte Sicherheitslage daran gehindert, sein Wahlrecht wahrzunehmen, viele Frauen wurden nur zum Schein registriert, und angesichts der zu erwartenden Manipulation wird auch das Ergebnis kaum zur Legitimität der Regierung beitragen. Falls die international operierenden radikalen Islamisten noch eines Beweises bedurft hätten für ihre These, dass Demokratie nur ein Mittel ist, die Interessen des Westens weltweit durchzusetzen: Voilà, hier ist er! Eine Lektion muss der Westen daraus lernen: Es ist dringend notwendig, die Rolle von Wahlen beim Aufbau von Krisenländern neu zu definieren."

  • "Der Tagesspiegel" (Berlin):

"Die Stimmabgabe ist möglicherweise lebensgefährlich. Das wissen die 17 Millionen wahlberechtigten Afghanen. Auf den Sieger warten immense Aufgaben. Von Frieden kann keine Rede sein, der Drogenanbau boomt, die Korruption ist allgegenwärtig. Unterdessen macht sich Kriegsmüdigkeit nicht nur in Afghanistan breit. Auch in den Entsendeländern der internationalen Allianz werden die Debatten über einen Abzug nachdrücklicher denn je geführt. Schließlich kostet der Militäreinsatz Milliarden, und das in Zeiten einer globalen Krise, da alle mit ihren eigenen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen haben. (...) Für Washington steht einiges auf dem Spiel. Afghanistan ist Obamas Krieg. Seine Regierung hat einiges politisches Kapital daraufgesetzt, Truppenstärke und Mittel für Afghanistan aufzustocken - und er braucht Erfolge, schnelle Erfolge, damit seine Partei bei den Kongresswahlen im Herbst 2010 nicht abgestraft wird."

  • "Handelsblatt" (Düsseldorf):

"Demokratie hat auch in einem Land, in dem Absprachen zwischen Clan-Führern Tradition haben, eine Chance. Aber sie muss von innen heraus entstehen. Gerade die Heranwachsenden wollen eine konkrete Perspektive, ein klares politisches Credo, einen Wettstreit der Ideen. Wenn Karzai ihnen über kurz oder lang keine Zukunft liefert, dann sind seine Führungstage gezählt. Afghanistan braucht jetzt eine Regierung, die auf Legitimität und Vertrauen setzen kann. Auf beides darf sich Karzai nur begrenzt berufen. Seine Wähler sammelt er durch dubiose Absprachen mit ehemaligen Warlords. Keine stabile Basis also für die fällige Wende in Kabul."

  • "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ):

"Zwei Denkschulen konkurrieren mit Blick auf die Erklärung des afghanischen Niedergangs. Die eine betrachtet das Land wegen seiner Gesellschaft und Geschichte als schlichtweg unregierbar - jedenfalls im herkömmlichen staatlichen Sinne. Die andere erkennt eine Häufung politischer Fehler, die zu einem Teil im Ausland lägen und zum anderen der Person Hamid Karzais zuzuschreiben seien. (...) Karzai begann sich durchzuwursteln und balancierte immer waghalsiger zwischen den Erwartungen des Auslands und den Interessen der Warlords. Gegenüber seiner Familie und deren fragwürdigen Geschäften drückte er die Augen zu. In dem Maße, in dem Washington auf Abstand ging, verschärfte Karzai seine Kritik an den internationalen, insbesondere den amerikanischen Truppen. Tatsächlich reagierte die NATO auf den sprunghaft ansteigenden Widerstand der Taliban mit heftigeren Angriffen, denen immer mehr Zivilisten zum Opfer fielen. In den vergangenen Monaten war das Verhältnis zwischen Karzai und Washington derart angespannt, dass in Kabul über eine Trennung der einstigen Partner spekuliert wurde. Noch am Tag vor den Wahlen scheint unklar, welchen Kandidaten die Obama-Regierung nun eigentlich favorisiert."

  • "L'Humanité" (Paris):

"Die Sieger der heutigen Wahlen in Afghanistan sind schon im Voraus bekannt: die Taliban. Sie sind es, die während des 'Wahlkampfs' die Schlagzeilen gemacht haben, während es das Ziel des Urnengangs unter Beobachtung der US- und NATO-Truppen war, eine Normalisierung des Landes zu demonstrieren. (...) Heute stehen die Terroristen erneut vor den Toren von Kabul. Das ist ein totales strategisches Fiasko für Washington und seine westlichen Alliierten."

  • "La Croix" (Paris):

"Wie kann man die Ergebnisse der Wahl in einem solchen Klima interpretieren? Wie kann man ihre Gültigkeit überprüfen? (...) Man muss denen Respekt zollen, die trotz der Gefahr wählen gehen. Ihr Verhalten ist eine Ermutigung für die Länder, die in Afghanistan vertreten sind, ihr Engagement im Dienste des afghanischen Volkes fortzusetzen, damit es am Ende dieser Kriegsjahre endlich einen Sieger gibt; damit das Land nicht eine ewige Geisel bleibt (man denkt da vor allem an die Frauen), damit es von den Taliban, korrupten Kriegsfürsten und unfähigen ausländischen Mächten nicht länger unterjocht wird. Langfristig geht es darum, das tägliche Leben der afghanischen Bevölkerung zu verbessern. Sollen wir bleiben? Ja."

  • "Libération" (Paris):

"Afghanistan verlassen? Die Frage ist logisch und respektabel. Aber man muss vor jeder Entscheidung mit Realismus auch den anderen Teil dieser Alternative untersuchen. Sie lässt sich in drei Worten zusammenfassen: eine katastrophale Niederlage. Vom Krieg befreit, würde das afghanische Volk sofort der grausamen Gewaltherrschaft der Taliban unterworfen. Darüber hinaus hätte dieser Sieg weltweite Auswirkungen. Können die wichtigsten Demokratien vor denen die Flucht ergreifen, (...) deren erklärtes Ziel es ist, möglichst überall gemäßigte muslimische Regime zu stürzen. (...) Alle, die auf die Freiheit allergisch reagieren und denken, dass die Sache Gottes die furchtbarsten Verbrechen rechtfertigt, werden dann lautstark triumphieren. Wollen wir das wirklich?"

  • "La Repubblica" (Rom):

"Das afghanische Votum hat nicht nur nationale Bedeutung. Auf dem Spiel steht doch viel mehr. Die Präsidentenwahl wirkt sich über die Grenzen dieses zersplitterten und unkontrollierbaren Landes hinaus aus. Denn die Afghanen wählen nicht nur ihren Präsidenten und die Provinzräte. Indem sie zu den Urnen gehen oder diesen fernbleiben, nehmen sie an so etwas wie einem Referendum teil, das über das Engagement der internationalen Gemeinschaft richtet. Und damit über das Bemühen, ein Gebiet in Zentralasien zu stabilisieren, das als strategisch wichtig im Kampf gegen den Terrorismus eingestuft wird. Es ist ein von den Waffen bedrohtes Referendum. Oder besser gesagt: Erzwungen von der Bedrohung. Das Szenario spricht Bände."

  • "La Stampa" (Turin):

"Der Konflikt in Afghanistan, den die USA nach dem 11. September (2001) begonnen haben, steht vor dem Scheitern, obwohl doch eine breite Koalition sich mit Washington im Kampf gegen Al-Kaida solidarisiert hat. Und das gilt genauso für den Irak, wo der Konflikt weiterhin Tote fordert und der in Ernüchterung enden wird. Aus dem Wunsch heraus geboren, Demokratie und Licht zu bringen, haben die neuen Kriege gegen den Terrorismus Nacht und Nebel gebracht sowie jenes Monstrum hervorgerufen, das man doch zu bekämpfen versprochen hatte - den 'failed state', jenen gescheiterten Staat, von dem der Terrorismus lebt. Das sagen uns etwa die Urheber der Attentate (vom Mittwoch) in Bagdad: Eure Kriege sind doch nur wandelnde Leichen."

  • "Trouw" (Amsterdam):

"Bei der vorigen Präsidentenwahl zeigte eine Beteiligung von 70 Prozent, dass die Afghanen Hoffnung auf eine bessere Zukunft hatten. Diesmal wird eine viel geringere Beteiligung erwartet. Viele Menschen haben die Hoffnung verloren, zermürbt durch Gewalt und eine schlechte Wirtschaftslage. Hinzu kommt die Befürchtung von Wahlbetrug. Und vor allem die Drohung der Taliban mit Anschlägen, sogar mitten in Kabul. Es ist trotzdem zu hoffen, dass die Afghanen die Kraft aufbringen, die die Iraker im Dezember 2005 demonstrierten, als ihr Land gänzlich von der Gewalt beherrscht wurde. Das Recht auf Demokratie einzufordern, so unfertig sie auch sein mag, ist eine entscheidende Voraussetzung, um Terror und Anarchie widerstehen zu können." (APA)