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"Wir wollen mit allen demokratischen Parteien reden, es geht uns aber nicht nur um einen Regierungswechsel, sondern um einen Politikwechsel."

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"Die NPD ist ohne Zweifel rassistisch, antisemitisch und rechtsextrem. Ein Verbot hat aber nur dann einen Sinn, wenn es vor unseren Gerichten Stand hält."

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Claudia Roth macht es sich nicht leicht. Die Grünen-Chefin hat sich zum Ziel gesetzt, die Große Koalition abzuwählen und eine konservativ-liberale Koalition zu verhindern. Auf ein rot-grünes Bündnis will sich ihre Partei aber ebenso wenig festlegen wie auf eine "Jamaika"-Koalition mit CDU/CSU und der FDP. derStandard.at bat die Schwäbin während einer Wahlkampfpause im sächsischen Chemnitz zum Interview.

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derStandard.at: In Ihrem Wahlprogramm heißt es, die Grünen wollten den Klimaschutz im Grundgesetz verankern. Gleichzeitig gondeln Sie im Wahlkampf mit einem Bus tausende Kilometer durch die Bundesrepublik. Wie wollen Sie diesen Spagat schaffen?

Claudia Roth: Das ist kein Spagat sondern ein Beweis für das Scheitern der deutschen Automobilindustrie, die es nicht schafft, Autos auf den Markt zu bringen, die tatsächlich klimaneutral sind. Ich kann aber nicht mit dem Fahrrad fahren oder einem japanischen Hybrid, der wäre zu klein. Und ich kann auch nicht mit dem Zug fahren, da komme ich ja nirgends hin. Deshalb fahren wir mit dem Bus und machen dafür eine Art modernen Ablasshandel: wir weisen erstens darauf hin, dass es da ein Defizit gibt und zahlen zweitens Abgaben an Atmosfair.

derStandard.at: Vor der EU-Wahl gab die wirtschaftsliberale Zeitung Financial Times Deutschland (FTD) eine Wahlempfehlung für die Grünen ab. Haben Sie sich darüber gefreut?

Claudia Roth: Das war zumindest ein Einbruch in eine Welt, die uns bisher immer gesagt hat, wir hätten keine Wirtschaftskompetenz. Die Empfehlung der FTD war ja so begründet, dass wir die einzigen waren, die Vorschläge etwa zur Regulierung der Märkte oder zu Maßnahmen in der Finanzmarktkrise erarbeitet haben. Das war schon eine Anerkennung unserer Kompetenz.

Natürlich hat uns das gefreut, weil es vielleicht auch zeigt, dass sich die Debatte in der Bundesrepublik verändert hat und das Vorurteil, man könne sich Grün nur in guten Zeiten leisten, auch in den neuen Bundesländern nicht mehr gilt. Wenn Ban Ki-moon (UN-Generalsekretär, Anm.) von einem Green New Deal redet oder der Gouverneur von Kalifornien faktisch unsere Politik übernommen hat, merkt man, dass man die Grünen ernst nimmt.

derStandard.at: Wichtigstes Wahlziel der ehemaligen Regierungspartei Bündnis 90/Die Grünen scheint das Verhindern einer Koalition aus Union und FDP und die Abwahl der Großen Koalition zu sein. Ein rot-grünes Bündnis hingegen ist laut Presseberichten nicht Ihr Ziel. Welche Koalition soll dann übrigbleiben?

Claudia Roth: Gerade in Süddeutschland gibt es ein großes Selbstbewusstsein unter den Grünen, eigenständig mit grünen Inhalten anzutreten, anstatt Farbdebatten zu führen. Wir haben nicht mehr das rot-grüne Projekt, das war Schröder-Fischer, die ja auch als Personen dafür gestanden sind. Die Voraussetzung für einen Politikwechsel in Deutschland ist, dass wir zweistellig werden, dass wir die dritte Kraft in unserem Land werden, was beides hohe Ziele sind.

Auf unserem Parteitag wurde nur eine Konstellation ausgeschlossen, nämlich die "Jamaika"-Koalition (CDU/CSU-FDP-Bündnis90/Die Grünen, Anm.), weil wir nicht Mehrheitsbeschaffer für eine neoliberale Partei sein wollen. Wir wollen mit allen demokratischen Parteien reden, es geht uns aber nicht nur um einen Regierungswechsel, sondern um einen Politikwechsel.

derStandard.at:
In Zeiten steigender Arbeitslosigkeit in Deutschland fordern Sie die völlige Gleichstellung von Bürgern aus den neuen EU-Staaten, auch am Arbeitsmarkt. Wie wollen Sie das den Wählern verkaufen?

Claudia Roth: Die Freizügigkeit von Arbeitnehmern war bei uns schon immer eine wichtige Forderung. Es ist einfach nicht gut, dass es innerhalb der EU Menschen zweiter Klasse gibt, allein schon deshalb, weil das in den neuen EU-Ländern die Europadistanz gefördert hat. Wenn ich in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit komme, wird gleichwohl immer gesagt, dass man auch dort schon lange Arbeitnehmer aus Tschechien oder aus Polen braucht. Die Freizügigkeit ist für uns deshalb sowohl eine europapolitische als auch eine arbeitsmarktpolitische Forderung. Der gesamte Gesundheitsbereich wäre ohne Arbeitnehmer aus Osteuropa undenkbar. Deshalb wollen wir nicht nur die Freizügigkeit von Dienstleistungen, Waren und Kapital, sondern auch von Personen, denn das ist Europa.

Wir wollen aber auch eine Gleichstellung von Drittstaatenbürgern mit der Unionsbürgerschaft. In Deutschland und wohl auch in Österreich leben seit Jahrzehnten Menschen, etwa Türken, die nicht mit EU-Bürgern gleichgestellt sind, was natürlich zu einer Hierarchisierung führt.

derStandard.at: Zu Beginn Ihrer Politlaufbahn waren Sie in der Sache der Kurden besonders stark engagiert. Soll die Türkei nach heutigem Stand der EU beitreten?

Claudia Roth: Ich muss lachen, denn genau darüber habe ich mit meinem Freund Johannes Voggenhuber sehr heftige Kontroversen ausgefochten. Ich bin sehr dafür, dass die Türkei die glaubwürdige Perspektive hat, gleichberechtigtes Mitglied der EU zu werden. Wir haben immer gesagt, dass die Voraussetzung dafür die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien ist, ohne Ausnahme, aber auch nicht mit zusätzlichen Erschwernissen. Es gibt dafür unterschiedliche Gründe, einer davon ist die Integration, wir haben jetzt schon Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland. Das wäre eine ideale Brücke.

Aber auch aus ökonomischen und sicherheitspolitischen Gründen wäre die Türkei in der EU ein Signal, dass Europa nicht nur das christliche Abendland ist. Schon beim Beitritt von Spanien, Portugal und Griechenland haben die Opfer der jeweiligen Regime immer auf einen möglichst baldigen Beitritt gehofft, einfach deshalb, weil der demokratisierende Prozess und die Stabilität von Reformen durch den EU-Rahmen gegeben sind.

derStandard.at: Sie waren Anfang der 80er Managerin der bahnbrechenden Agitpop-Punkband Ton Steine Scherben. Was halten Sie von Menschen, die Musik illegal im Netz downloaden?

Claudia Roth: Das ist eine heftige Debatte. Wir fordern in unserem Programm eine Kultur-Flatrate, was beinhaltet, dass es auch im Netz eine Art Kompensation für Autoren und Komponisten gibt. Ich kenne die Zeiten als es hieß, ein Musiker lebe von Luft, Liebe und Revolution, aber davon wird man halt nicht satt. In einer Zeit, in der es die Möglichkeiten gibt, de facto alles herunterzuladen, muss es auch einen Weg geben, der es dem Künstler ermöglicht, Musik zu komponieren. Die Kultur-Flatrate soll so ähnlich wie die GEMA dem Musiker ausgeschüttet werden.

derStandard.at: Die rechtsextreme NPD hat vergangene Woche den Thüringer CDU-Integrationssprecher Zeca Schall massiv bedroht. Soll sie verboten werden?

Claudia Roth: Die NPD ist ohne Zweifel rassistisch, antisemitisch und rechtsextrem. Ein Verbot hat aber nur dann einen Sinn, wenn es vor unseren Gerichten Stand hält. Das Bundesverfassungsgericht hat Voraussetzungen benannt, die von den Innenministern nicht erfüllt werden, etwa den Rückzug von V-Leuten in den NPD-Strukturen. Wenn ein Verbot durchgesetzt werden kann, bin ich dafür, wenn es wackelt, bin ich dagegen, weil die NPD sich dann als demokratisch legitim darstellen kann. Und Verbote haben prinzipiell immer Grenzen, weil man das Denken ja nicht verbieten kann.

derStandard.at: Kaliforniens Gouverneur Schwarzenegger spielt mit dem Gedanken, mit der Besteuerung von legalem Marihuana-Verkauf das Budgetloch zu stopfen. Eine gute Idee auch für Deutschland?

Claudia Roth: Ich finde, dass man die Legalisierung von weichen Drogen nicht nur anstreben soll, um die Budgetlöcher zu stopfen. Es geht vor allem darum, die Illegalisierung von Menschen zu überwinden, aber auch, um eine gewisse Qualitätskontrolle zu gewährleisten. Gerade in einem Land, in dem in den kommenden Wochen die größte offene Drogenszene der Welt, nämlich das Münchener Oktoberfest, stattfindet, ist eine Liberalisierung weicher Drogen dringend notwendig. So wie es derzeit gehandhabt wird, ist es doppelbödig. Dass Menschen zu weichen Drogen greifen, ist eine Realität, wenn man das nicht erkennt, fördert man die Schwarzmärkte. (Florian Niederndorfer, derStandard.at, 18.8.2009)