"Ich sammle Geschichten, bevor sie verblassen, verstummen, sich auflösen im offenen Raum des Vergessens." Dieser Satz aus Eugenie Kains Erzählung Unterwegs aus dem vor kurzem im Otto Müller Verlag erschienenen Band Schneckenkönig könnte auf die Autorin gemünzt sein. Denn eine solche Geschichtensammlerin ist auch Kain. Der Vorwurf einer der drei Musen in der ironischen Eröffnungserzählung Können Musen fliegen?, dass die Erzählerin im "Begriff" sei, "die Lebensgeschichte (ihrer) Nachbarin nachzuerzählen", erscheint ihr ungerechtfertigt, sind es doch nur Name und Beruf, die sie von dieser entlehnt. Mit dieser kleinen Poetik wehrt sich die Autorin gewissermaßen gleich vorneweg gegen den Vorwurf, dass sie nur vom Leben abschreibe. Denn es ist die Gratwanderung zwischen Mimesis und Poiesis, die sie in ihren Erzählungen beschreitet, die deren Kunstcharakter ausmacht.

Wie in ihrem 2004 erschienenen Erzählband Hohe Wasser nimmt sich Kain auch in dem vorliegenden Band wieder vor allem des Themas der Vergänglichkeit und Brüchigkeit der menschlichen Existenz an. Und das aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Nicht zu Unrecht hat Erich Hackl einmal betont, dass sich die oberösterreichische Autorin der sogenannten "sozialen Randschichten" annehme: Mädi, die Geliebte des Tankstellenbesitzers im Linzer Hafen, die Bier und Fischkonserven verkauft und mit rumänischen Matrosen Kurzzeitlieben eingeht; die Großmutter, eine ehemalige Arbeiterin der lokalen Tabakfabrik, deren ertragreicher Kirschbaum nach ihrem Gang in ein Altenheim von den Käufern des Hauses einfach "zusammengeschnitten" wird; der rot gelockte, titelgebende "Schneckenkönig", ein kleiner Bub, der in seiner Familie, wo alle braune Haare haben, als "Schande" und Außenseiter gilt, wohl weil er unehelich geboren wurde und damit für alle Zeiten die Ehrlosigkeit seiner Mutter markiert: "Er lernte früh, sich schmal zu machen, unsichtbar wollte er sein." Durch seine Schneckensammlung und seinen Wunsch, Schneckenforscher zu werden, erlebt er so etwas wie Glück und Anerkennung. Doch am Tag des Begräbnisses seines Großvaters, wo er wieder zum Gespött der versammelten Familie wird, ertränkt er sein Elend im Alkohol und erlöst sich in einem selbstgelegten Feuer.

Nicht alle Erzählungen Kains sind von dieser existenziellen Schwere, wenngleich der Grundton in ihren Texten letztlich immer ein ernster ist. Leicht und witzig liest sich etwa die Erzählung Amuse-Gueule, wo von einer (Koch-)Leidenschaft berichtet wird.

Auch die Kurzzeitlieben der Tankstellengehilfin Mädi, die in der Eingangs- und in der Schlusserzählung geschildert werden und den Erzählband gewissermaßen rahmen, haben etwas vom schnellen Glück und der Genussfreude unserer Zeit, von der Abgeklärtheit einer Frau mittleren Alters, die schon aus dem bitteren Kelch der Liebe getrunken hat und nun auch deren Süße genießen will. Hinter all dem schwebt freilich ein Wissen um die Vergänglichkeit allen irdischen Glücks, demzufolge man sich im Leben leichter tut, wenn man einer Philosophie des Augenblicks huldigt.

Von der Vergänglichkeit, von der Fragilität menschlicher Beziehungen und der Notwendigkeit, sich im Leben manchmal neu einzurichten, berichtet auch die schönste Erzählung des Bandes: Sehnsucht nach Tamanrasset. Es ist die Geschichte einer jungen dreiköpfigen Familie, die an den üblichen Problemen junger Familien leidet, aus denen die Frau jedoch plötzlich ausbricht, indem sie wieder ihrer beruflichen Leidenschaft, ihrem Forscherinteresse in Afrika nachgeht und Kind und Mann einfach verlässt.

Eine Geschichte so trüb und zugleich so klar wie ein Bernstein. Eine Geschichte, in die unendlich viel von den Problemen und Ängsten unserer Zeit eingegangen ist, aber mit einer Leichtigkeit und Knappheit erzählt, die ihresgleichen sucht. (Nicole Streitler/DER STANDARD, Printausgabe, 14.-16. 8. 2009)