RNA-Interferenz (RNAi) in der Therapie: Sogenannte siRNA (short interfering RNA) wird synthetisiert und in die Zelle eingebracht (RNA-induced silencing complex, RISC). Schnipsel der Boten-RNA (mRNA) schalten Gene stumm.

Illustration: Fairman; Bearbeitung: Fatih Aydogdu

Javier Martinez, Molekularbiologe am Imba.

Foto: Imba/point of view

Die künstlichen RNA-Moleküle können einzelne Gene lahmlegen und die Produktion von krankmachenden Proteinen blockieren. Der internationale Wettlauf hat bereits begonnen.

Für gewöhnlich üben sich Wissenschafter in Zurückhaltung, wenn es darum geht, neue Technologien zu loben. Ganz anders vor einigen Jahren: "Ein Geschenk des Himmels", verkündete Nobelpreisträger Phillip Sharp (2003), "wissenschaftlicher Durchbruch des Jahres", schrieb Science (2002).

Bejubelt wurde die RNA-Interferenz (RNAi). Der molekularbiologische Mechanismus ermöglichte es endlich, jedes gewünschte Gen auszuknipsen. Nicht nur die Grundlagenforschung hatte ein unverzichtbares Werkzeug gewonnen. Auch Biotech-Unternehmen und Pharmaindustrie witterten ihre Chance.

Künstlich hergestellte RNA-Stückchen sollten einzelne Gene lahmlegen und somit die Produktion von krankmachenden Proteinen blockieren. Die Entwicklung von Waffen gegen Krebs, Infektionen und Erbkrankheiten schien nur noch eine Frage der Zeit.

Der deutsche Biochemiker Roland Kreutzer war weltweit der Erste, der sich an die Herstellung von Medikamenten auf Basis der RNA-Interferenz machte. Gemeinsam mit einem Geschäftspartner gründete Kreutzer im Jahr 2000 die Ribopharma AG.

Neuartige Arzneien im Test

Am Anfang kämpfte der Spin-off der Universität Bayreuth um Kapital und Überleben. Doch 2003 kam es dank wichtiger Patente zur Fusion mit Alnylam Pharmaceuticals, einer führenden RNAi-Firma aus den USA. 2007 zahlte der Schweizer Pharmakonzern Roche 330 Millionen Dollar an Alnylam – und bekam dafür den von Kreutzer geleiteten Firmenteil (jetzt: Roche Kulmbach GmbH) sowie Lizenzrechte. Für satte 1,1 Milliarden Dollar kaufte Merck vor drei Jahren den RNAi-Spezialisten Sirna Therapeutics. Millionenschwere Deals zwischen kleinen Biotech-Unternehmen und Pharmariesen sind also keine Seltenheit – auch wenn noch kein einziges RNAi-Medikament auf dem Markt zugelassen ist.

Dennoch ist Roland Kreutzer von der Überlegenheit der Interferenz-Technologie überzeugt: "Die künstlichen RNA-Moleküle können jedes beliebige Gen stummschalten", berichtet er. Mit "herkömmlichen" Arzneimolekülen erreiche man nur die Hälfte aller Zielstrukturen, weil krankmachende Substanzen oft sperrig sind oder sich im Zellinneren vor den heilenden Wirkstoffen verbergen.

Auch das Design der RNA-Therapeutika verschlingt nicht – wie bei der klassischen Medikamentenentwicklung – einige Jahre, sondern nur ein paar Monate. Ab 2010 will man den ersten Arzneimittelkandidaten aus Kulmbach am Menschen auf Wirksamkeit und Unbedenklichkeit überprüfen.

Weltweit wird bereits rund ein Dutzend RNAi-Medikamente in der Klinik getestet. Sie sollen unter anderem gegen eine Augenerkrankung (Makuladegeneration), die Lungeninfektion RSV und Leberkrebs wirken. Ganz unproblematisch ist die Entwicklung der neuartigen Arzneien nicht: Eine der größten Hürden ist der Wirkstoff-Transport bis zu den Zielzellen – und dann vor allem in sie hinein. Dies soll gelingen, indem man die doppelsträngigen RNA-Schnipsel in fetthaltige Kapseln packt. Außerdem werden die Biotech-Medikamente auf Toxizität und Nebenwirkungen abgeklopft, beispielsweise unerwünschte Immunreaktionen.

Kompetitives Forschungsfeld

Vor 2012, meint Roland Kreutzer von Kulmbach Roche, wird es wohl kein RNAi-Medikament durch die Zulassung schaffen, aber das sei kein Grund, ungeduldig zu werden: "Wir stehen erst am Anfang einer Entwicklung." Am Ende dieser würde Javier Martinez gerne "Medikamente gegen schlecht behandelbare Krebsarten und Virusinfektion wie HIV" sehen.

Der Grundlagenforscher vom Wiener Imba (Institut für Molekulare Biotechnologie, Österreichische Akademie der Wissenschaften) erforscht, wie das Stummschalten von Genen in Säugerzellen funktioniert. Für ihn ist die Entdeckung der RNA-Interferenz der wichtigste wissenschaftliche Befund der letzten 50 Jahre. "Unser Wissen über die Steuerung der Gene wurde revolutioniert", schwärmt der Molekularbiologe und vergleicht: "als würde ein Astronom im Sonnensystem einen neuen Planeten entdecken".

Seit 2004 leitet der Spezialist für "das Schweigen der Gene" eine Arbeitsgruppe am Imba. In den letzten Monaten hat er zwei Arbeiten mitveröffentlicht – eine davon über die microRNA 138. Die Forscher um Martinez fanden heraus, dass die kleine RNA das Wachstum von Neuronenfortsätzen reguliert. Diese sogenannten dendritischen Dornen sind an der Signalübertragung im Nervensystem beteiligt (Nature Cell Biology). Javier Martinez und sein Team berichteten in der Zeitschrift EMBO Reports über die Rolle von microRNA 29 in Tumorzellen. Bemerkenswert an dieser kleinen RNA ist, dass sie in bestimmten Geweben das Fortschreiten der Tumorentwicklung fördert und in anderen Geweben hemmen kann.

Um sich von der Masse abzuheben, muss sich Martinez gehörig ins Zeug legen. Mit tausenden Papers pro Jahr ist das Feld der RNAi-Forschung höchst kompetitiv. Deswegen sind Verbündete wichtig – und derer gibt es nicht wenige in Wien. "Die Stadt hat sich zu einem Hotspot der RNA-Forschung entwickelt", berichtet der gebürtige Argentinier. Allein am Imba leiten zwei Kollegen (Kazufumi Mochizuki, Julius Brennecke) Gruppen mit RNA-Fokus.

Weitere Liebhaber des Multifunktions-Moleküls finden sich in unmittelbarer Nähe am Campus Vienna Biocenter: etwa Renée Schroeder, Silke Dorner und Andrea Barta (Max F. Perutz Laboratories). Damit den Forschern der Nachwuchs nicht ausgeht, initiierte der Wissenschaftsfonds FWF vor zwei Jahren ein Doktoratskolleg für RNA-Biologie.

Katakomben statt Skiresort

Auch Javier Martinez trommelt seit 2006 jährlich die RNA-Community zusammen und lädt zum "Microsymposium on small RNAs". Zielgruppe sind etablierte Wissenschafter ebenso wie Doktoratsstudenten und Post-Docs. Zwar bietet die Tagung keine mondänen Freizeitaktivitäten für die rund 250 Teilnehmer. "Bei RNA-Konferenzen in Nordamerika trifft man sich oft in noblen Skiresorts", sagt Martinez. In Wien besuchen die RNA-Spezialisten "nur" die Katakomben in der Innenstadt.

Doch da keine Konferenzgebühr eingehoben wird und die Reisekosten moderat sind, können sich auch Jungforscher die Teilnahme leisten. Aufstrebende Talente zu fördern, liegt Martinez besonders am Herzen. Denn zu erforschen gibt es in diesem "hippen" Arbeitsgebiet der Biologie jedenfalls noch genug. (Julia Harlfinger/DER STANDARD, Printausgabe, 12.08.2009)