Der Horror tarnt sich als üppiges Gelage: das Mädchen Coraline auf Entdeckungstour im gleichnamigen Film von Henry Selick.

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Wien - Unheimliche Filme, Horrorfilme für Kinder! Für viele Menschen klingt das nach einem Widerspruch. Dabei trägt die Kette jener fantastischen Literatur, die sich weniger um regressive, (vermeintlich) unschuldige Kindheitsutopien bemüht, sondern Raum für allerhand Ängste und versteckte Sehnsüchte lässt, die schönsten Perlen. Märchen bauen stets auf solchen Archetypen auf, moderne Ableger wie Lewis Carroll, Roald Dahl oder eben der Brite Neil Gaiman, von dem die Vorlage zu dem Animationsfilm Coraline stammt, setzen diese Traditionen auf eigenwillige Weise fort.

Gaiman hat das Buch als Entschädigung für seine eigene Tochter geschrieben, die unter seinem großen Arbeitspensum gelitten hatte. Das hinterließ in der Geschichte Spuren, denn das elfjährige Mädchen Coraline buhlt ebenso um die Aufmerksamkeit ihrer schreibwütigen Eltern. Nun haben sie noch dazu den Wohnort nach Oregon gewechselt, in einen rosaroten Palast inmitten einer trostlos grauen Landschaft, mit bizarren Nachbarn wie einem russischen Mäusezirkusakrobaten. Vielleicht nicht der beste Ort für blauhaarige Mädchen, doch immerhin einer, der Entdeckergeist verlangt und die Fantasie herausfordert.

Als Film benötigt Coraline eine dementsprechend geschickte Hand für widerstreitende Gefühlswelten, für das Absonderliche und Schräge. Regisseur Henry Selick (The Nightmare Before Christmas), einer der eigenbrötlerischeren US-Zeichentrickexperten, der sich auf das anachronistische Stop-Motion-Verfahren spezialisiert hat, erweist sich dafür als der richtige Mann. Coraline ist der seltene Fall einer durch und durch stimmigen Verschmelzung alter und neuer Technologien. Die skulpturalen Figuren, Puppen im erweiterten Sinne, erhalten mit dem (digital nachgebesserten) 3-D-Verfahren ein hohes Maß an Plastizität. Vor allem zählt hier jedoch die eigenständige zeichnerische Vision, die atmosphärisch mit den Stimmungsschwankungen der Heldin korrespondiert und fantastische Parallelwelten mit liebevollen handwerklichen Details schafft.

Makellose Wunschwelt

Ähnlich wie in Alice im Wunderland entdeckt auch Coraline einen verborgenen Tunnel, hinter dem sich ein anderes Universum auftut. Es sieht dem bekannten zwar zum Verwechseln ähnlich. Aber all das, was im richtigen Leben voller Makel war, gerät dort zu scheinbarer Perfektion. Ein zweites Elternpaar erwartet sie mit dem fertigen Braten im Rohr, eifert um ihre Anteilnahme und hält für sie üppige Überraschungen bereit: Zirkus, Vaudevilletheater, ein illuminierter Garten - das Leben wird für Coraline zur Wundertüte. Und nach gelegentlichen nächtlichen Ausflügen drängt man das Mädchen, ganz zu bleiben.

Die giftigsten Dinge leuchten allerdings bekanntlich in den verführerischsten Farben. Selick versteht es ausgezeichnet, die Verlockungen einer Alternativwelt zu demonstrieren und dabei an kleinen, aber umso beunruhigenden Details erahnen zu lassen, dass dies alles nur Blendwerk für ein dunkles Geheimnis ist. Ein erstes Indiz sind die Knöpfe - welch wunderbare Harmlosigkeit! -, die das ideale Elternpaar anstatt der Augen trägt; doch Augen, weiß man, sind ein Spiegel der Seele.

Und um nichts anderes als Seelenzustände geht es in diesem ungewöhnlichen Animationsfilm: Die Übermutter jenseits der Mauer der Realität ist (auch) als Produkt verborgener Sehnsüchte begreifbar, die, einmal zu Leben erwacht, zum Horror mutieren. Coraline, diese zutiefst eigensinnige Heldin, versteht so auch irgendwann, dass ihr Glück nur um den Preis der Unvollkommenheit zu haben ist. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD/Printausgabe 12.8.2009)