Washington/Logar/Wellington/Kabul - Eineinhalb Wochen vor der Präsidentenwahl in Afghanistan haben die radikal-islamischen Taliban nach Angaben der internationalen Schutztruppe ISAF die Oberhand gewonnen. Die Extremisten hätten ihren Einfluss über ihre traditionellen Hochburgen im Süden und Osten des Landes hinweg auf den Norden und den Westen des Landes ausgeweitet, warnte der Chef der NATO-geführten multinationalen ISAF-Truppe in Afghanistan, Stanley McChrystal, in einem am Montag auf der Internetseite des "Wall Street Journal" veröffentlichten Interview. Die Taliban seien derzeit ein sehr "aggressiver Feind".

US-Truppen müssen sich auf hohe Verluste einstellen

"Wir müssen ihre Dynamik, ihre Initiative stoppen. Das ist eine hartes Stück Arbeit", betonte McChrystal. Derzeit hätten die Taliban die Oberhand. Die US-Truppen müssten sich weiterhin auf hohe Verlusten einstellen. Der ISAF-Chef kündigte laut "Wall Street Journal" zugleich eine Strategieänderung der Truppen in Afghanistan an. Demnach würden künftig mehr Soldaten in bedrohten Städten und dicht besiedelten Gebieten eingesetzt. Ausdrücklich nannte der General dabei die Stadt Kandahar im Süden des Landes, eine der Hochburgen der Taliban. "Es ist wichtig, dass wir alles, was zu tun ist, unternehmen, um die Sicherheit von Kandahar zu gewährleisten", erklärte McChrystal. Aufgabe der Soldaten sei es, die Zivilbevölkerung besser vor Bedrohungen und Einschüchterungen der Taliban zu schützen.

Strategische Neuorientierung bis Ende August

McChrystal wolle sich bis Ende August in Washington über eine strategische Neuorientierung äußern. Vermutlich werde er die Entsendung von weiteren 10.000 Soldaten fordern, hieß es laut "Wall Street Journal" unter Berufung auf hohe Militärs. Der Afghanistan-Krieg dauert bereits acht Jahre.

Eine weitere Truppenaufstockung könnte allerdings in Washington auf Widerstand stoßen, schrieb die Zeitung weiter. US-Präsident Barack Obama hat bereits 21.000 zusätzliche US-Soldaten nach Afghanistan geschickt, die bis zum Herbst ankommen werden. Damit erhöht sich die Zahl der amerikanischen Soldaten auf 68.000. Hinzu kommen rund 30.000 Soldaten aus NATO-Staaten und anderen Ländern.

Verstärkte Angriffe der Extremisten untermauerten die Einschätzung McChrystals: Im nordafghanischen Kunduz sprengte sich ein Selbstmordattentäter neben einem Konvoi belgischer und afghanischer Soldaten in die Luft. Verletzt wurde niemand. Die belgischen Soldaten gehörten zum Wiederaufbauteam in Kunduz und benutzen das gleiche Feldlager wie die deutsche Bundeswehr. Nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums waren keine Angehörigen der Bundeswehr betroffen. Kunduz ist der bei weitem gefährlichste Einsatzort der deutschen Soldaten. Bei Gefechten nahe der Stadt war erst am Freitag ein deutscher Soldat verwundet worden.

Deutscher Verteidigungsminister sieht Bedrohung

Der deutsche Verteidigungsminister Franz Josef Jung hatte am Wochenende zwölf Prozent des deutschen Einsatzgebiets im Norden als akut bedroht bezeichnet. Zugleich räumte er erneut ein, dass sich die Sicherheitslage in der Region Kunduz verschärft habe. Um Afghanistan endgültig zu stabilisieren, werde die internationale Gemeinschaft noch mindestens fünf bis zehn Jahre brauchen, sagte der Minister in dem Interview der "Bild am Sonntag" voraus. Um die Lage in den Griff zu bekommen, hatte die Bundeswehr zuletzt Marder-Schützenpanzer nach Kunduz verlegt und die schnelle Eingreiftruppe dort aufgestockt.

In der Stadt Pule Alam in der Provinz Logar griffen Taliban-Kämpfer mehrere Regierungsgebäude an und töteten nach Angaben einer Hilfsorganisation mindestens fünf Polizisten. Zu ihren Zielen gehörten unter anderem der Amtssitz des Gouverneurs, Polizei-Einrichtungen und Wahlbüros. Medienberichten zufolge lieferten sich die Sicherheitskräfte mehrstündige Schießereien mit den Angreifern, die "schweres Feuer" - darunter auch Raketen - eingesetzt hätten. Der Polizeichef der Provinz, Ghulam Mustafa Mohzeni, wollte sich zu den Schießereien nicht äußern. "Wir stecken im Elend, und Sie stellen Fragen", reagierte er auf einen Anruf von Reuters. Die Gewalt in Afghanistan ist seit Beginn einer Großoffensive gegen Taliban-Hochburgen im Süden des Landes eskaliert. Im Juli erreichte die Zahl der getöteten ausländischen Soldaten einen Höchststand.

Neuseeland schickt Elite-Einheit

Unterdessen schickt Neuseeland auf Bitten der USA eine Elite-Einheit nach Afghanistan. Etwa 70 Soldaten des Special Air Service (SAS) würden dort für bis zu 18 Monate Dienst tun, kündigte Ministerpräsident John Key am Montag an. Wo und wie die Soldaten eingesetzt werden sollten, sagte er nicht. Die SAS war bisher dreimal im Kampf gegen die Taliban im Einsatz, zuletzt 2006. Die US-Regierung hat um ihre Rückkehr gebeten. Zudem helfen 140 neuseeländische Soldaten beim Wiederaufbau in Bamjan westlich der Hauptstadt Kabul. (APA/Reuters/dpa)