Der konfessionelle Religionsunterricht an öffentlichen Schulen hat laut Zulehner noch nicht ausgedient: "Solange 75 Prozent der Leute ihre Ethik religiös begründen, ist es sinnvoll, dass auch dort die Menschen geformt werden."

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"Früher waren die Studierenden widerspenstiger, haben mehr dagegen gefragt." Diese fehlende Widerständigkeit begünstigt, so Zulehner, die Unterwerfungsbereitschaft und den Aufstieg rechter Parteien.

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Das österreichische Schulsystem in seiner derzeitigen Form sei nicht zukunftsfähig, konstatiert Pastoraltheologe Paul Zulehner.

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iPod nebst Bibel – kein Widerspruch im Haushalt von Paul Zulehner.

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Zulehner präsentiert seine restaurierten Ikonen.

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Theologe Paul Zulehner sieht die fortschreitende Ökonomisierung des Bildungssystems mit kritischen Augen: "Langfristig ist auch der innovatorischen Kraft der Wirtschaft gedient, wenn sie nicht nur nützliche Idioten erzieht." Die gesellschaftlichen Entwicklungen würden es mit sich bringen, dass es jungen Leuten an Widerspenstigkeit und Kritikfähigkeit mangle. "Mich hat es schon in meiner 25-jährigen Lehrzeit an der Universität verwundert, dass die Studierenden immer fragloser geworden sind", sagt er. Woher die zunehmende Unterwerfungsbereitschaft unter Jugendlichen kommt, und warum sich die Religionen fürchten müssen, wenn Gott nicht mehr in Frage gestellt wird, erklärte er im Gespräch mit derStandard.at. Die Fragen stellten Teresa Eder und Lukas Kapeller.

derStandard.at: Sie konstatieren in Ihren neuen Forschungsergebnissen zur Wertestudie, dass sich die Wiederkehr der Religion in Österreich nicht so deutlich fortgesetzt hat, wie Sie es noch vor zehn Jahren vermutet hätten. Ist im Bildungsbereich, also im Religionsunterricht, etwas verabsäumt worden?

Zulehner: Es gibt einen generellen Trend zur weltanschaulichen Verbuntung. Wir haben gedacht, dass der Megatrend der Respiritualisierung stabiler und stärker ist. Aber es hat sich erwiesen, dass es neben einem sich verdichtenden kleineren kirchlichen Feld ein wachsendes atheisierendes Feld gibt und dazwischen ein spirituelles Feld. Die Kernfrage ist, ob es dem Religionsunterricht gelingt, die kulturelle Dimension der Religion ausreichend zu thematisieren. Mir scheint, dass der Religionsunterricht nicht nur für innerkirchliche Anliegen dienen sollte. Gleichzeitig gibt es paradoxerweise eine Repolitisierung der Religion. Es gibt Leute, die sagen: Um die Identität Europas zu sichern, braucht es einen Religionsunterricht. Wer sich vom konfessionellen Unterricht abmeldet, sollte aus kulturellen Gründen einen Religionen-Unterricht besuchen. Mir wäre der Ethikunterricht zu wenig.

derStandard.at: Wenn man das auf den Religionsunterricht an den Schulen umlegt, würden Sie also dafür plädieren, dass nicht nur das Christentum im Unterricht präsentiert wird, sondern auch andere Religionen?

Zulehner: Es ist völlig klar, dass jeder, der heutzutage Theologie studiert, eine große Basis-Kenntnis aller großen Weltreligionen braucht; einschließlich einer sehr einfühlsamen Kenntnis des Atheismus. Wir leben in einer Welt, die sich kulturell und religiös immer mehr durchmischt. Es ist eine Frage des Friedens, ob die Religionen einander schätzen und sagen, jede trägt irgendetwas vom Ringen um die Frage Gottes in sich. Der europäische Christ kann zum Beispiel vom Moslem lernen, dass das konkrete Alltagsleben mit dem Gottesglauben mehr zu tun hat, als wir in unserer Privatisierung heute meinen. Wir trennen heute feinsäuberlich Religion und Öffentlichkeit. Wir haben die Religion in die Sakristeien verbannt.

derStandard.at: Die Wertestudie zeigt, dass sich nicht einmal mehr jeder zweite Jugendliche als religiös bezeichnet. Was kann die Kirche den Jugendlichen überhaupt noch anbieten?

Zulehner: Die Frage ist, ob sich die jungen Leute wirklich von der religiösen Dimension des Lebens wegentwickeln. Daran habe ich Zweifel, denn gleichzeitig mit dem Rückzug des Begriffs "Religion" stabilisiert sich trotzdem der Gottesglaube. Es scheint eine Art Säkularisierung oder Aufweichung des Begriffs "Religion" zu geben, weil dieser Begriff immer noch sehr stark an die christlichen Kirchen gebunden ist. Die Kirchen haben ein so schlechtes Image, wie sie es eigentlich gar nicht verdienen. Kirchen mischen sich relativ stark ein in Fragen wie Ökologie und Gerechtigkeit. Das sind ja die Top-Themen der engagierten Jugendlichen. Dennoch ist es der katholischen Kirche in Österreich "gelungen", dass sich eine Kluft entwickelt hat.

derStandard.at: Sie haben die Plakate der Atheismus-Kampagne grundsätzlich begrüßt. Die Initiatoren fordern aber auch das Ende staatlicher Förderungen für Religionsunterricht. Sie fragen: Wieso ist so ein Religionsunterricht an öffentlichen Schulen noch gerechtfertigt?

Zulehner: Das ist leicht zu erklären. Im Grunde genommen verwaltet die Politik nur das, was gesellschaftlich an Leben vorhanden ist. Ein Staat erfindet die Gesellschaft nicht, sondern findet sie vor. In diesem Land sagen immerhin drei Viertel der Menschen: Wir stehen in der christlichen Tradition. Dann gibt es als zweitgrößte Gemeinschaft die Muslime. Dann kann man ja gar nicht anders, als diese Kräfte in einer angemessenen Weise am gesellschaftlichen Prozess zu beteiligen. Die Forderung der Atheisten vermischt hier die Ebenen.

derStandard.at: Genügt es nicht, nur einen Ethikunterricht in den Schulen zu verankern?

Zulehner: Natürlich kann man ethische Prinzipien auch auf der Basis eines Atheismus oder eines gesunden Humanismus entwickeln. Solange aber 75 Prozent der Leute ihre Ethik auch religiös begründen, ist es sinnvoll, dass auch dort die Menschen geformt werden. Sie sollen lernen, wer sie sind, wie sie widerständig sein können und wie sie nicht ständig eine Unterwerfungsbereitschaft entwickeln, wie wir sie im Dritten Reich hatten. Wir entdecken, dass diese Unterwerfungsbereitschaft derzeit kulturell wieder begünstigt wird.

derStandard.at: Sind in österreichischen Schulen nicht viel zu sehr Anpassung und Gehorsam gefordert, nach dem Motto: "Ihr Kind fällt mir sehr positiv auf, es sagt nie etwas"?

Zulehner: Mich hat es schon in meiner 25-jährigen Lehrzeit an der Universität verwundert, dass die Studierenden immer fragloser geworden sind. Früher waren sie widerspenstiger, haben mehr dagegen gefragt. Am Schluss waren sie immer ruhiger und haben sich oft auch schon aufgeregt, wenn etwas öffentlich kritisiert wurde. Die Generationen haben sich verändert. Die jüngere Generation braucht mehr Ich-Stärke, mehr Kampffähigkeit, mehr Daseins-Kompetenz, auch die Fähigkeit, mit Unsicherheiten zu leben. Aber: Es wächst die Unsicherheit und es schwindet die Daseins-Kompetenz. Bei der letzten Nationalratswahl hat sich gezeigt, wie massiv rechts die Unter-Dreißigjährigen gewählt haben. Das verdankt sich nicht H.-C. Strache, sondern einer Gesellschaft, die nicht mehr imstande ist, diese widerständigen Leute hervorzubringen.

derStandard.at: Sie werden sicher befürworten, dass Religionsunterricht auch religionskritisch sein muss. Die Religion per se in Frage zu stellen ist auch okay?

Zulehner: Die Religion infrage zu stellen ist gar nicht so schlecht. In dem Augenblick, wo der Mensch die Religion in Frage stellt, bewegt er sich auf dem religiösen Feld. Vielleicht im Modus der Negation, aber er kann gar nicht anders, weil es aufgrund der langen Tradition unserer Kultur so schwer ist, das Vokabel Gott vollkommen zu vergessen. Die Religionen müssten eigentlich am meisten fürchten, dass Gott gar nicht mehr in Frage gestellt wird.

derStandard.at: Die neue Mittelschule wird seit einigen Jahren debattiert und stückweise eingeführt. Können Sie sich vorstellen, dass auch katholische Privatgymnasien sich dazu entschließen, zur neuen Mittelschule zu werden?

Zulehner: Das ist eine grundsätzliche Frage für die gesamte österreichische Politik, die meines Erachtens wirklich einen massiven Innovationsschub braucht, jenseits aller bisherigen ideologischen Grenzen. Ich glaube, dass die Schweiz, Deutschland und Österreich, als die letzten drei Länder, die die Kinder viel zu früh aufteilen, nachweislich kein zukunftsfähiges Schulsystem haben. Es gibt nach wie vor eine soziale Selektion, eine Bildungsungerechtigkeit, die auch in massive Armut und zwar auch kulturelle Armut mündet.

derStandard.at: Die Ökonomisierung hat mittlerweile längst auch die Bildung erreicht. Lässt sich dem entgegentreten, oder ist die "effiziente, schlanke Schule" nach dem Vorbild des Marktes der richtige Weg in unserer Zeit?

Zulehner: Wir kennen ja die Probleme etwa an den Universitäten, wo wir fragen: Wie viel Geld geben wir für die Naturwissenschaften aus und wie viel für die Geisteswissenschaften? Die Tendenz, maximal in die Naturwissenschaften zu investieren und die Geisteswissenschaften links liegen zu lassen, ist durchaus vorhanden. Dass die Wirtschaft sagt, sie braucht handlungsfähige Leute in den Wirtschaftsbetrieben, ist legitim. Aber es ist zu wenig, wenn man die gesamte Schule auf ökonomistische Interessen zurückschneidet. Man raubt dem Menschen letztlich seine Flügel. Wir haben dann ein Arbeitsvieh erzogen, aber keinen Menschen. Langfristig ist auch der innovatorischen Kraft der Wirtschaft gedient, wenn sie nicht nur nützliche Idioten erzieht.

derStandard.at: Sie haben eine Studie gemacht unter dem Titel "Warum studieren so viele Theologie und werden so wenige Priester?" Studieren wirklich so viele Theologie?

Zulehner: Wir haben in Wien in der langen Zeit meines Dekanats zunehmende Zahlen bei den Fachtheologen gehabt. Das hatte auch ein bisschen mit der Ostöffnung zu tun. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass die Theologie uninteressant geworden ist. Die Kernfrage ist: Woher kommen in Zukunft die Leute? Die katholische Kirche könnte sich jederzeit dazu entscheiden, aus dem Pool derer, die an den theologischen Fakultäten sind und Priester werden möchten, weit mehr zu nehmen als nur die Männer, die ehelos leben wollen. Die Kirche könnte das eigentlich mit einem Federstrich verändern. Sie hat so viel Spielraum, dass es bedauerlich ist, dass wir unter dem Priestermangel überhaupt leiden. (Teresa Eder/Lukas Kapeller, derStandard.at, 10.08.2009)