Angelika Klüssendorf, "Amateure". € 17,50 / 144 Seiten. Fischer, Frankfurt/Main 2009

Grafik: Fischer

Ja, es gibt sie: überschätzte und unterschätzte Bücher; die überschätzten werden von emsigen Zirkulationsagenten so lange im Orbit gehalten, bis es scheint, als wären sie immer schon dagewesen; die unterschätzten werden von beharrlichen Redakteuren so lange bepatet, bis diese irgendwann einsehen (müssen), dass ihr hehrer Eifer nicht fruchtet. Angelika Klüssendorfs "Aus allen Himmeln" (2004) gehört zweifellos zu den grob fahrlässig unterschätzten Büchern, wenig geheimer Geheimtipp hin oder her.

Was die 1958 in der vormaligen DDR geborene Autorin in "Aus allen Himmeln" angelegt hat, erfährt in dem neu erschienenen Erzählband "Amateure" seine konsequente Fortschreibung: Der unaufhaltsame Sprachverlust wird in seiner Bedingtheit zusehends von den sogenannten Verhältnissen entkoppelt. Fragen werden nicht gestellt, Antworten bleiben aus, an deren Stelle treten soziophobe Mütter, die chronisch hungrig sind, und Söhne, die ihre Väter beim Online-Gaming inkognito erschießen.

Es ist alles längst gesagt, lediglich in Rückblenden wird da und dort darauf verwiesen, dass manches auch ganz anders hätte kommen können, dass neben der bloßen Existenzkatastrophe Milieus zuweilen ihr Übriges tun. So beziehungsvoll sich die episodischen Erzählungen zueinander verhalten, so defizitär sind die Figuren selbst. Da sind etwa in der gleichnamigen Eingangserzählung "Edna und Moritz" (sie Museologin aus dem Osten, er TV-Redakteur aus dem Westen), die bei einer gemeinsamen Radtour durch die "Mecklenburgische Landschaft" ihres Missverstehens gewahr werden: "Sie sprach langsam und leidenschaftslos auf ihn ein. Sie schien ihm einen Entschluss mitteilen zu wollen. Er verstand zuerst kein Wort von dem, was sie sagte, dann begriff er immerhin so viel: Sie bot ihm ihre Freundschaft an, und irgendwie verstand er, dass diese Freundschaft alles Weitergehende ausschloss."

In der abschließenden Erzählung des schmalen Bandes trifft Edna auf einen Freund aus DDR-Kindertagen, Alex, und auch in deren beider Entfremdungschronologie spiegelt sich wider, was alle elf Erzählungen kennzeichnet: Frauen, die sich (noch) gegen das Abhandenkommen der Sprache wehren; Männer, die schon verstummt sind: "Irgendwann schwieg er, als hätte das Reden ihn erschöpft. Er kauerte sich vor den Ofen und öffnete die Klappe, schloss sie wieder, und sein Gesicht wirkte so unbewegt, als wäre er allein in diesem Raum."

Angemessene Distanz

Die Menschen, deren Biografien die Autorin auf variierenden Zeitstufen so kunstvoll verwebt, sind beschädigt, gescheiterte Amateure ihrer Lebensentwürfe. Die ursächlichen Instanzen selbst werden kaum expliziert; nur manchmal nehmen sie vage Gestalt an, um wieder zu verschwinden, noch ehe man sich ihrer vergewissern hätte können. Etwas Gespenstisches kreist über all diesen Figuren, die entweder ihre vierzehnjährigen Söhne immer noch "Herzchen" nennen und in der vorletzten Schwangerschaftswoche zwei Gläser Rioja trinken oder ein Faible für Kampfflugzeuge haben und sich am dritten Oktober mit schwarz-rot-gold glasierten Petits Fours vollstopfen.

Klüssendorfs unbestechlicher Blick durchmisst ostdeutsche Vergangenheiten und gesamtdeutsche Gegenwarten und bleibt dabei stets in angemessener Distanz, ohne sich je auf eine rein protokollarische Position zurückzuziehen: "Der Bauer nahm einen Knüppel und schlug auf den Tierkörper ein, er schlug, als wolle er nie wieder aufhören. Was sich mir am deutlichsten in die Erinnerung grub, war das plötzliche Verstummen der sich gegenseitig anfeuernden Männer und das erstarrende Röcheln des Viehs, als das Rückgrat brach."

Wie kompromisslos und souverän Klüssendorf in diesen elf Episoden, in denen jeder Anfang vom Ende her gedacht wird, vorführt, dass Literatur immer noch Kunst und keine sozialwissenschaftliche Subdisziplin ist, beglaubigt sie als Autorin erster Wahl. Sie erzählt ihre Geschichten so lakonisch und unsentimental, wie das eben nur dann beeindruckt, wenn die Wörter und Sätze gültig sind, so dastehen, dass allein die Idee, sie könnten es auch anders, im Außermöglichen zu liegen scheint.

Und wie häufig bei zwingender Literatur kommt es auf die Unterströmung an, sie bringt über kurz oder lang jede Lebenslüge zu Fall; sie allein fängt die Zeit ein, ohne tendenziös zu sein, oder wie Ingeborg Bachmann auf so bemerkenswert-merkwürdige Weise sagt: "Ich lasse mich von der Aktualität nicht korrumpieren, indem ich die Aktualität korrumpiere."

Vor dem Hintergrund einer solchen Schreibhaltung entsteht eine poetische Bilderwelt, der auch in ihren taghellen szenischen Ausprägungen das Unheimliche immer schon eingeschrieben ist, das Vorgefundene im Gemachten aufgeht (und nicht umgekehrt), so "als sei dieser Flecken Erde vor einem halben Jahrhundert jemandem aus der Hand gefallen und liegengeblieben, einfach so" .

Wer nach dem Gesicht des Neuen in der deutschen Literatur gesucht hat und weder bei den großspurigen Weitwinkel-Wenderomanen noch in den süffigen Bionadisierungsminiaturen aus und über Berlin fündig geworden ist, dem seien Klüssendorfs "Amateure" in die Hand gelegt. Denn wer so wie sie freizulegen, ohne bloßzustellen, zu demaskieren, ohne zu denunzieren weiß, dessen Literatur überdauert die Zeitläufe, sie kommt aus der erschaudernden Tiefe jeder großen Kunst. (Josef Bichler / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8./9.8.2009)