Rahel Jahoda ist seit 2006 Psychotherapeutin bei "intakt".

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"Es fängt ja schon damit an, dass die Barbie-Puppe dünner geworden ist, als sie eigentlich ursprünglich war", so Jahoda.  

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Diäten, Diätprodukte und Tipps zur schlanken Linie sind omnipräsent, ebenso wie Frauen, die sich diese Ratschläge einverleiben wollen. Für jene, bei denen es sich aber um nichts anderes mehr dreht, als ums Gewicht verlieren und die Gefahr von ernsthaften gesundheitlichen Schäden besteht, gibt es inzwischen einige Einrichtungen, in denen sie sich Hilfe holen können.

Rahel Jahoda ist Klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin und leitet das psychotherapeutische Team des Therapie- und Kompetenzzentrums "intakt". „Wir sehen Essstörungen immer als bestmögliche Lebensbewältigungsstrategie. Dennoch stellen diese eine ernstzunehmende Erkrankung dar, die sich unbehandelt verschlimmert", heißt es auf der Webseite von "intakt". dieStandard.at sprach mit Rahel Jahoda über Heilungschancen, die Grenzen zwischen "etwas abnehmen" und Magersucht und über eine größer werdende Diskrepanz zwischen Personen in der Öffentlichkeit - Stars - und uns.

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dieStandard.at: Inwiefern ist es für Anorektikerinnen wichtig, attraktiv zu sein?

Rahel Jahoda: Meiner Ansicht nach ist das ein sehr vordergründiger Aspekt, dahinter stehen ganz andere Themen. Für viele ist es aber sicher der Einstieg. Dahinter stehen aber oft Traumata, Verwahrlosungen usw.

dieStandard.at: Teile des Diagnoseschemas wie beispielsweise "starke Angst vor Gewichtszunahme" oder "verzerrte Körperwahrnehmung", sind auch bei vielen Frauen zu finden, die sich - und ExpertInnen - nicht als krank bezeichnen würden. Sind Teile der Krankheit bereits alltagstauglich?

Jahoda: Ich weiß nicht, ob man alltagstauglich sagen kann. Aber das kennt fast jede Frau, dass man sich in gewisser Weise mit dem Gewicht beschäftigt. Da ist niemand ganz frei davon, oder nur die wenigsten. Ich arbeite jetzt seit achtzehn Jahren mit Essstörungen und bin auch nicht immer davor gefeit.

dieStandard.at: Aber könnte man sagen, dass es bei Anorexie zumindest zu einer partiellen Vermischung pathologischer Verhaltsweisen und einem Handeln kommt, das für eine sehr große Gruppe von Frauen Alltag ist?

Jahoda: Es ist ganz klar, wann die Krankheit beginnt, dazu gibt ganz eindeutige Diagnosekriterien. Pathologisch wird es dann, wenn es gesundheitliche Probleme gibt, auch kommt sehr oft ein sozialer Rückzug hinzu. Die Mädchen gehen oft nicht mehr aus, zum einen können sie es von ihrer Kraft her gar nicht, zum anderen interessiert es sie auch einfach nicht mehr. Sie beschäftigen sich dann nur mehr mit dem Essen, obwohl sie keines zu sich nehmen.

dieStandard.at: Wenn Rückzug eine große Rolle spielt: Wäre dann ein Verbot von Webseiten (siehe der Artikel "Das Essen muss gehasst werden"), in denen sich die Frauen über Anorexie austauschen können, wenn auch in einem zweifelhaften Stil, nicht falsch?

Jahoda: Naja, auf solchen Seiten wird schon in eine sehr gefährliche Richtung gepuscht. Wichtig wären schon andere Möglichkeiten des Austauschs. Aber sicher sind die Peer Groups ein total wichtiger Faktor.

dieStandard.at: Wenn eine Klientin mit einer verzerrten Körperwahrnehmung meint "ja sehen sie denn nicht, wie es bei mir schwabbelt", kann man der Klientin wahrscheinlich nicht mit "laut BMI sind sie normal- oder untergewichtig" kommen, oder?

Jahoda: Diese Frage kommt oft, "hab ich nicht wieder zugenommen?" oder ähnliches. Ich sage dann - das ist mein Zugang - wie ich ihren Körper erlebe. Ich spreche dann auch manchmal an, wie es der Klientin mit anderen Menschen geht, also wie sie zum Beispiel mich oder Freundinnen erlebt. Da sind sie hingegen meistens sehr tolerant.

dieStandard.at: Wenn man einen Blick in die Populärkultur wirft, kann man schon behaupten, dass dünn sein - nicht nur schlank sein - Mainstream geworden ist. Ein Mädchen hat somit ja durchaus recht, wenn sie sagt, dass sie so und so aussehen muss, wenn sie als attraktiv gelten will.

Jahoda: Es fängt ja schon damit an, dass die Barbie-Puppe dünner geworden ist, als sie eigentlich ursprünglich war. Auch das Michelin-Männchen war früher viel dicker, es ist zwar noch immer dick, aber es ist mittlerweile "verschlankt" worden. Das Paradoxe aber ist: Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, zum Beispiel Schauspielerinnen, sind dünner geworden, aber die Bevölkerung hingegen wird dicker. Da gibt es eine Schere, die immer weiter auseinander geht.

dieStandard.at: Was ist Ihrer Ansicht nach für diese Diskrepanz verantwortlich?

Jahoda: Zum einen denke ich, dass über längere Zeit ein gewisses Gewicht nicht zu halten ist, wenn man zum Beispiel wenig Zeit hat. Für viele Menschen ist das nicht machbar. Es gibt ja die Beobachtung, dass Menschen mit weniger Geld dicker sind, sie ernähren sich anders als Leute aus der Oberschicht und mittlerweile auch Mittelschicht. Eine Theorie, warum es diese Schere gibt, habe ich nicht. Es sind ja auch noch viele andere Fragen offen, wie etwa, warum vor allem Frauen betroffen sind, warum vor allem Weiße und vor allem die westliche Welt betroffen ist.

dieStandard.at: Diese Art schlank bzw. dünn zu sein, wie es uns berühmte Menschen vorführen, ist eine Zeit- und Geldfrage?

Jahoda: Ja, es ist schon auch eine Frage des Geldes. Wobei es sich mittlerweile langsam vermischt. Als ich vor achtzehn Jahren mit dieser Arbeit begonnen habe, betraf es noch vielmehr die Oberschicht.

dieStandard.at: Die Frage, warum Anorexie vor allem Frauen betrifft, ist auch nicht geklärt?

Jahoda: Im Grunde nicht. Anorexie galt lange als Frauenkrankheit, es war für Männer auch ganz schwierig sich zu outen, dass sie eine Frauenkrankheit haben. Ich kann mir vorstellen, dass die Dunkelziffer bei Männern noch höher ist als bei Frauen.

dieStandard.at: In Foren, in denen sich Anorektikerinnen austauschen, wird gerne von "Selbstermächtigung", "Disziplin" oder von einem "starken Willen" gesprochen. Welche Rolle spielt es, den Körper zu besiegen?

Jahoda: Das spielt durchaus eine Rolle. Das war ja auch eine der Forderungen der Frauenbewegung: "Mein Körper gehört mir!". Das wird sozusagen in der Anorexie in eine kranke Form gebracht. Es ist wirklich oft so, dass es das einzige ist, wo jemand das Gefühl hat, allein zu bestimmen. Bei anderen hingegen steht im Vordergrund, dass man dann ganz zart und klein ist und Schutz braucht.

dieStandard.at: Wie viele Anorexie-Erkrankte gibt es in Österreich?

Jahoda: Es gibt eine Zahl, die sich, seit ich in diesem Bereich arbeite, nicht verändert hat: 200.000 Anorexie- und Bulimie-Erkrankte. Diese Zahl kann aber nicht mehr ganz stimmen. Mein Eindruck ist schon, dass Anorexie zugenommen hat.

dieStandard.at: Wie sehen denn die Heilungschancen aus?

Jahoda: In der Literatur wird von einem Drittel gesprochen, das geheilt werden kann, ein Drittel ist chronisch krank und ein Drittel stirbt. Magersucht ist die psychiatrische Krankheit mit der höchsten Sterblichkeitsrate. Also es ist nicht zu verharmlosen, es ist wirklich eine ganz gefährliche Krankheit. (Die Fragen stellte Beate Hausbichler, dieStandard.at, 5.8.2009)