Bild nicht mehr verfügbar.

Die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia scheint ihre erste Talfahrt zu erleben. Die Gründe dafür sind eine Abkehr von der bisherigen Strategie, stärkere Beschränkungen und die Frage, wie man die richtigen ContentlieferantInnen ansprechen und diese halten kann.

Foto: Archiv

Die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia ist innerhalb kürzester Zeit zur meistzitierten Quelle der Welt geworden. Klassische Nachschlagewerke, wie etwa Brockhaus, hatten das Nachsehen. Doch nach dem kometenhaften Aufstieg, scheint der Höhenflug erst einmal gestoppt. Die Frage lautet nun: Steckt Wikipedia in der Krise oder ist es nur ein kleiner Durchhänger?

Neulinge nicht mehr willkommen?

"Es ist leicht zu behaupten, dass Wikipedia für immer da sein wird, aber wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass dies bei Weitem nicht so sein muss", so Ed Chi vom Palo Alto Research Center gegenüber New Scientist. Der Strategiewandel der letzten Zeit, der dazu führte, dass es Neulingen immer schwerer gemacht wird an der Online-Enzyklopädie mitzugestalten, könnte sich negativ auf die Qualität des Angebots auswirken, so Chi.

PR-Paradies und Zensur

Eines der größten Probleme für Wikipedia sind die Content-LieferantInnen. Wer stellt Qualität sicher? Wie kann verhindert werden, dass sich ausschließlich PR-Unternehmen und Lobbyisten auf den Seiten austoben und damit von einer ausgewogenen, objektiven Haltung nicht mehr geredet werden kann? Welche Inhalte müssen gelöscht werden und wo beginnt die Zensur? Warum sollten AnwenderInnen weiterhin ihre Zeit in Wikipedia investieren, wenn die internen Strukturen immer beschränkender werden und es keinerlei finanzielle Abgeltung gibt? Die Online-Enzyklopädie kann somit durchaus exemplarisch für die Herausforderungen von Anwender-generiertem Content herangezogen werden. Qualität kostet Geld - auch im Internet und auch bei kostenlosen Angeboten.

Wikipedia startete 2001 und schaffte sehr schnell einige Millionen Artikel. Im Jahr 2006 wurden monatlich rund 60.000 Artikel veröffentlicht, seither ging es zeitweise steil bergab. Derzeit wird gerade einmal ein Drittel dieses Rekordwertes erreicht, meldet New Scientist. Zudem fanden die Wissenschaftler vom Palo Alto Research Center bei ihren Untersuchungen heraus, dass sowohl die Zahl der Editierungen als auch Anzahl der aktiven Editoren deutlich gesunken ist.

Der Krieg der Editoren

Die Kräfteverteilung innerhalb der Wikipedia-Strukturen hat sich in den letzten Jahren massiv verändert und dies nicht zum Vorteil, meint Chi. Von den "gewöhnlichen" ContentlieferantInnen, die unregelmäßig partizipierten, eindeutig in Richtung der besonders aktiven und in regelmäßigen Abständen Teilnehmenden. Darin ortet Chi einen Trend der NeueinsteigerInnen, aber auch die  "zeitweise Partizipierenden", die nur eine Editierung im Monat durchführen, an den Rand drängt und immer stärker ausschließt.

Widerstand gegen neuen Content

Ein Viertel aller Einträge die diese "occasional Editors" anlegten, wurden wieder gelöscht oder deutlich verändert. 2003 lag dieser Wert noch bei rund 10 Prozent. "Das ist ein Beweis für den wachsenden Widerstand gegen neue Content innerhalb der Wikipedia-Community", so Chi. Langfristig gesehen, würden mit dieser Strategie keine neuen Editoren gewonnen werden können, die dann aber fehlen, wenn es dringend notwendige Korrekturen gibt beziehungsweise Vandalismus bekämpft werden muss. "Dies wird einen deutlichen Qualitätsverlust im Laufe der Zeit mit sich bringen", warnt Chi.

Diskussionen statt Neuerungen

Aus Sicht der Wissenschaftler dürfte die unglaubliche Größe von Wikipedia dazu führen, dass nicht mehr so sehr über neue Inhalte und die Verbesserungen existierender Artikel diskutiert wird, sondern sich die Community in Diskussionen um einzelne Edits verliert.

Im Zentrum des Interesses

Die vorab veröffentlichten Ergebnisse der Untersuchungen von Chi und seiner KollegInnen führten zu einiger Aufregung und teilweise heftigen Diskussionen. Chis Argumente seinen nur eine mögliche Sichtweise der Entwicklungen, die sich jedoch auch als Vorteil und richtungsweisend für die Zukunft deuten ließen. Die große Anzahl an entfernten Beiträgen könnte sehr wohl auch durch das immer stärkere "Spamming" durch Unternehmen mit PR-Texten oder Links auf Unternehmenswebseiten erklärt werden. Nähere Untersuchungen und weitere Ergebnisse werden von Seiten zahlreicher ExpertInnen angekündigt. Auch wenn das Interesse der AnwenderInnen gesunken sein sollte, die Wissenschaft hat Wikipedia nun als Forschungsgegenstand für sich erkannt.(Gregor Kucera, derStandard.at, vom 5.8.2009)