Rubinowitz über Neugebauer: "Er ist aus der Hülle des damaligen Marios herausgewachsen, zum Koloss gereift, und er ist tätowiert, über und über, ich wollte ihn davor bewahren, es ist mir nicht gelungen, vielleicht hat Kippi ihn bestärkt, aus seinem Körper ein Kunstwerk zu bauen."

Bild: Mario Neugebauer

"Verbissen hing er am Sandsack, beim Duschen sprach er mich an, wer mir meine Tätowierungen gemacht habe."

Als ich Mario Neugebauer kennenlernte, war er 13 und ich 23. Ich war gerade von Deutschland nach Wien gezogen, in erster Linie, weil ich nicht wusste, was ich machen sollte, und dafür schien mir Wien der geeignete Platz, alles schön langsam und verstaubt und voller böser Menschen, und das brauchte ich jetzt nach meiner gerade hinter mich gebrachten dreijährigen Zeit bei der Marine, andererseits war aber auch gerade der von mir verehrte Martin Kippenberger nach Wien gezogen, in dieser Zeit.

Er saß meistens im Alt Wien herum und spielte Mau-Mau. Manchmal spielte ich mit, meistens aber nicht, einfach weil ich kein Geld zum Verspielen hatte, und Martin gewann eigentlich immer, durch Können oder Betrug, ich bin nie dahintergekommen. Manchmal lieh er mir Geld, das er wieder zurückgewann, diese Taktik habe ich noch weniger verstanden.

Oft besuchte ich den Boxclub Geisterfaust im dritten Wiener Gemeindebezirk, meine Form ging durch die nahezu täglichen Alt-Wien-Besuche langsam aus den Fugen. Und hier in der Geisterfaust traf ich Mario, er war schmächtig, aber drosch wie ein wilder Stier auf den Sandsack ein, ein junger Stier, oder eher noch ein Kalb, aber mit eisernem Willen und einer Ahnung, der Ahnung, dass ihm sein Körper zu klein, zu eng sei, wie ein schlecht sitzender Anzug, und dass er da raus müsse, und für dieses Unterfangen musste eben der Sandsack büßen. Ich bearbeitete die Boxbirne und probierte Rechts-links-Kombinationen und Leberhaken an meinem treuen Sparringspartner Jürgen, genauer gesagt, Jürgen "Die Kralle" Pauseback, denn er machte, und das ging hier auch in der Geisterfaust, nebenbei seinen Master in Inari-Don, also die etwas härtere Kontaktsportversion von Kung Fu, eigentlich illegal, aber egal, es soll ja hier nicht um Jürgen gehen, sondern um Mario.

Illegal, aber egal

Verbissen hing er am Sandsack, beim Duschen sprach er mich an, wer mir meine Tätowierungen gemacht habe und was so etwas kosten würde. Ich muss dazu sagen, dass ich genau fünf davon habe, nicht sehr große Stücke, koreanische Buchstaben, über den ganzen Körper verteilt, die Koreaner haben ja im Gegensatz zu den rückständigen Japanern und Chinesen ihr Hangul, also Buchstaben wie wir, und auf meinen Ellbogen, Knien und auf meiner Eichel steht eben in Hangul S-A-T-A-N.

Ich musste Mario enttäuschen, denn ich hatte sie selbst gemacht, mit Kugelschreiber so lange ins Fleisch geritzt, bis das heiß wurde und aufplatzte wie eine zu lang gekochte Wurst, und in die Wunde, unter die Haut die Kulipaste dringen und sich festsetzen konnte, für immer. Lass das mal lieber, junger Freund, riet ich Mario, ich hatte damals, als ich das gemacht habe, sehr viel Zeit, auf diversen Schiffen, zuletzt der "Graf Spee" , als wir sechs Monate unterwegs waren, ich war damals schon Leutnant zur See, kein Kadett mehr, und Tätowierungen waren für uns junge Offiziere eigentlich streng verboten, also es kam noch das Spiel mit dem Feuer dazu.

Aber ich merkte, dass Marios Interesse für diese leider inzwischen unangenehm modisch gewordene Körpermodifikation entfacht war, ich wünschte, ich hätte ihm diesen Floh nicht ins Ohr gesetzt, und auf eben dieses Ohr werde ich noch zu sprechen kommen müssen.

Im Auge des Hurricanes

Einmal lud ich ihn ein, mit mir auszugehen, ins Alt Wien natürlich, ich meine, er war 13, vielleicht etwas früh für diese Stätte der Untoten, der Hoffnungslosen und Gehenkten, der Eierdiebe und Deserteure, ich war selbst noch jung, naiv und fühlte mich ein bisschen für Mario wie ein Erziehungsberechtigter, und wenn mir schon, wie es schien, es nicht gelingen sollte, ihn vom Wunsch sich tätowieren zu lassen, abzubringen, so konnte ich ihn hier, im Alt Wien, vorm Saufen bewahren, im Auge des Hurricanes sozusagen, ein frommer Wunsch, ich geb's zu. Und dann passierte eben etwas anderes, womit ich gar nicht gerechnet hatte. Da saß Kippenberger, allein, vor sich ein Päckchen Karten und ein Knoblauchschnaps und ein kleines Bier, der Schnaps sollte wohl das Bier größer machen, und das Bier den Schnaps entschuldigen, Alkoholiker kennen viele geheime Tricks, sich und ihr Umfeld zu betrügen.

Wir setzten uns dazu. Martin mochte Kinder, und er sah das Glosen in Marios Augen, dass hier etwas raus will, ein Hulk, ein Golem vielleicht, aber den sah nur Kippi, und so begannen wir zu spielen, und mirakulöserweise gewann Mario, das 13-jährige Kalb zog Kippenberger die sprichwörtlichen Hosen aus, ich verlor nur, hatte aber am nächsten Morgen keine nennenswerte Verluste in der Geldbörse, dafür einen gigantischen Kater und einen bestialischen Knoblauchbrodem, der mir aus dem Mund dampfte, als ich gegen Mittag aufwachte.

Ich rief Marios Eltern an, wie es ihm ginge, sie berichteten, er sei um acht heimgekommen, als der Vater gerade das Haus verlassen wollte, er hätte sie gebeten, der Schule eine Entschuldigung zu faxen, ja, das ging damals noch, ihm wäre ein drittes Ohr gewachsen, und die machten das auch noch, man merkt, er konnte die Schule schon nicht mehr ernst nehmen, und hatte seine Eltern total in seiner Hand, sie waren Werkzeuge für ihn.

Offenbar war Mario in jener Nacht von Kippi instrumentalisiert worden, denn, und das ist und war bei Mario immer ein verblüffend physikalisches Phänomen, egal wie du es nennst, man sieht seine Ohren NIE, immer bedeckt durch den Haarhelm, war so, ist so, wird wohl immer so sein. Demnach weiß man auch nicht, wie es mit der Anzahl seiner Ohren beschaffen sein muss, oder ob er überhaupt welche hat. Einmal hat er mir erzählt, dass er bis zum Alter von zwölf noch seine Ohren gezeigt hätte. An einem bestimmten Tag hat er sie dann bedeckt und bis heute kein einziges Mal mehr freigemacht. Bei Gelegenheiten, in denen er nicht umhinkann, seine Ohren zeigen zu müssen, blockiert er den Durchgang zwischen ihnen und seinem Bewusstsein. Und in jener Nacht wird Kippenberger ähnlich fasziniert gewesen sein von seiner Höranlage.

Ich sah ihn nicht mehr, entweder fand er in Kippenberger einen interessanteren Freund, einen, der ihm mehr anzubieten hatte als ich mit meinen Schwänken aus meiner Marinezeit, auch ging ich nicht mehr ins Alt Wien, mir wurde übel, wenn ich nur an diese Kneipe dachte, Alkohol trank ich überhaupt nicht mehr, ich war auch inzwischen der Scientology Church von Ron L. Hubbart beigetreten, und Trinken ist mit diesen meinen Leuten nicht kompatibel, das tat mir gut.

Ich kam inzwischen an, in Wien, richtete mich ein, legte mir einen lockeren Soziotop zu, die Familie schob ich vor mir her, die kann warten, so wie der Führerschein, das Auto, der Hund, das Häuschen im Grünen. Der Midlife-Krise schaute ich gelassen entgegen, da würde mir dann schon etwas einfallen, Posaune lernen zum Beispiel, eine Posaune, ein kompensatorisches Statussymbol, ganz nach meinem Sinne.

Mein Jahr im Schrank

Ich baute mein Leben so, dass ich nie wusste, was am nächsten Morgen kam, alle Gelegenheiten wurden geprüft, wahrgenommen oder ignoriert, Monotonie möglichst vermieden. Mein Jahr im Schrank in der Sendung Willkommen Österreich bei Stermann und Grissemann war der Gipfel der Routine, ich machte das auch nur, um Milieustudien zu treiben, wie verhalten sich die Gäste, wenn ein augenscheinlicher Psychopath plötzlich aus dem Kasten kriecht, hinter den Kulissen versuchte ich der Redaktion immer "meine" Gäste einzureden, was dann und wann auch klappte, der Erfolgsautor Joachim Lottmann, der Erfolgsclown Sascha Lobo, und immer wieder schlug ich auch, leider vergebens, Mario Neugebauer vor, er war inzwischen erfolgreicher Technoproduzent geworden, bei Patrick Pulsingers und Erdem Tunakans Label Cheap Records, ausgerechnet ein Sachse und ein Türke betrieben in Wien die modernste Form akustischer Kommunikation, durch sie war Wien plötzlich auf dem musikalischen Globus die Nummer 1, zumindest für eine Saison, und Mario war ihr Pin-up-Boy.

Viele Jahre später traf ich ihn zufällig in einer Hotelbar in Wien, ich reparierte dort eine defekte Klimaanlage, denn das war inzwischen mein Brotberuf geworden, Klimatechniker, aus der Anlage kam keine frische Luft mehr, sondern suppte nur noch eine braune Sauce, in ebenjener Bar sang ein abgehalfterter Sänger namens Louie Austen, bei der Vorstellung seiner Begleitcombo dachte ich zunächst, ich hätte mich verhört, aber er wiederholte es, sie hieß THE THIRD EAR FOUNDATION, mir wurde schlecht, und da traf mein Blick jenen von Mario wie ein verhungerter Blitz.

Mario, den ich so lange nicht mehr gesehen hatte, ich weiß nicht, warum wir es nicht fertigbrachten, uns anzusprechen, vielleicht war mir meine Klimatechnikeruniform zu peinlich, aber eines konnte ich mit Sicherheit erkennen, er ist aus der Hülle des damaligen Mario herausgewachsen, zum Koloss gereift, und er ist tätowiert, über und über, ich wollte ihn davor bewahren, es ist mir nicht gelungen, vielleicht hat Kippi ihn bestärkt, aus seinem Körper ein Kunstwerk zu bauen. (Tex Rubinowitz, ALBUM – DER STANDARD/Printausgabe, 01./02.08.2009)