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Die attraktive Piazza von Locarno, hier mit Popkonzert-Publikum

APA/EPA/KARL MATHIS

Marc Webb (re.) am Set seiner schrägen Romantic Comedy "(500) Days of Summer"

Foto: Centfox

Bern - Schon vor seinem Start am Mittwoch mit der US-amerikanischen Liebeskomödie "(500) Days of Summer" von Marc Webb ist das Filmfestival von Locarno von Schlagzeilen überschattet worden, die nur am Rande mit dem Programm zu tun haben: Starmangel wird einmal mehr beklagt und der Streit zwischen Schweizer Filmbranche und Filmförderern ausgewalzt. Es bestehe "absolut" die Gefahr, dass der Streit um die Filmpolitik des Förderungs-Verantwortlichen Nicolas Bideau die Filme in Locarno in den Schatten stellt, sagte der scheidende Festivaldirektor Frederic Maire gegenüber der "Mittelland Zeitung", "aber dagegen kann ich nichts machen". Beiträge über Festivalfilme und -gäste wären ihm lieber, aber dafür hätten die Zeitungen keinen Platz übrig, weil der Bideau-Diskurs die Seiten füllt.

Im Westschweizer Fernsehen TSR hatte Bideau am Montag angekündigt, er werde bei seiner Pressekonferenz am Freitag in Locarno die Aufsichtsbeschwerde zweier Filmproduzenten-Verbände gegen seine Sektion "in zehn Minuten demontieren". Über seine eigene Einstellung zur Arbeit des obersten Filmförderers gibt sich Maire salomonisch: "Bideau spektakularisiert das Schweizer Filmschaffen über seine Person." Das könne "gut und schlecht" sein, "meine Art ist es nicht".

Zum wiederholten Ruf Bideaus nach mehr Glamour am Lago Maggiore meinte Maire im Interview: Wenn Bern das wolle, "muss man uns auch mehr Geld geben". Allein die Flugtickets für einen Hollywood-Star mit Begleitung kosteten rund 20.000 Euro. Cameron Diaz wäre laut Verleiher für etwa 65.000 Euro zu haben gewesen, aber das Limit des Festivals liege bei 26.000 Euro. Laut Nadja Schildknecht vom konkurrierenden Zurich Film Festival seien Stars auch günstig zu haben. Roman Polanskis diesjähriger Auftritt koste "keinen Franken, abgesehen von bescheidenen Kosten für Anreise und Unterkunft", sagte sie der Pendlerzeitung "20 minuten". Da ist allerdings auch etwas Glück dabei, da Polanski in Paris wohnt. Sein Erste-Klasse-Ticket kostet laut Swiss-Homepage etwa 700 Franken, gegenüber einem Los Angeles-Retourflug, der mit mehr als 8.500 Euro zu Buche schlägt. Selbst wenn der Oscar-Preisträger drei Nächte in der besten Suite des Hotel Dolder verbringt, kommt er nicht auf über 10.000 Franken (6.500 Euro) Spesen.

Buntes Schluss-Bouquet

Für das Filmfestival von Locarno, das sechstgrößte weltweit, hat sich Frédéric Maire ein speziell buntes Schluss-Bouquet zusammengestellt. Insgesamt sind nicht weniger als 390 Filme programmiert, davon 180 abendfüllende. Eine Rarität sei ein abendfüllender Film, der ausschließlich mit dem Handy gedreht wurde. "Das Werk von Pippo Delbono eröffnet eine ganz neue Sicht auf das heutige Italien", verspricht Maire: "Das Programm soll möglichst kontrastreich sein, um den Zuschauern zu ermöglichen, neue cinematografische Territorien zu entdecken".

Der Kameramann Renato Berta erhält in Locarno den erstmals vergebenen Tessiner Kinopreis. Die mit 30.000 Franken (19.650 Euro) dotierte Auszeichnung wird am 11. August übergeben, teilten das Festival am Mittwoch mit. Berta wurde 1945 in Bellinzona geboren. Er hat unter anderem mit den Regisseuren Alain Resnais, Jean-Luc Godard, Manoel de Oliveira und Claude Chabrol sowie den Schweizern Francis Reusser, Alain Tanner und Daniel Schmid zusammengearbeitet.

Manga & Piazza

Locarno zeigt als erstes nicht-spezialisiertes Filmfestival eine japanische Anime-Reihe mit etwa 30 langen Filmen aus den letzten 50 Jahren - für Maire ein "Wagnis". Darunter ist der von Kennern mit Spannung erwartete Autorenn-Film "Redline" von Takeshi Koike. Er wird auf der Piazza Grande mit ihren 7.500 Plätzen gezeigt. Im Programm etwa gibt es zwar Folgen bekannter Serien wie "Pokémon", aber auch Klassiker des Anime-Schaffens, die noch nie im Westen gezeigt wurden - Leckerbissen für die immer noch wachsende, auch erwachsene Fangemeinde.

Das Piazza-Programm, das auch Nicht-Fachleute ansprechen will, präsentiert jeden Abend einen bis vier Filme, mehr als die Hälfte davon als Weltpremieren. Zu den Highlights gehört etwa "My Sister's Keeper" von Nick Cassavetes mit Cameron Diaz und Alec Baldwin. Der Film erzählt von einem Mädchen, das gezeugt wurde, um der leukämiekranken Schwester gleichsam als Ersatzteillager zu dienen. Weitere Openair-Stücke sind Ludi Boedens "Unter Bauern - Retter in der Nacht" mit Veronica Ferres über eine von deutschen Bauern versteckte jüdische Familie und der Schweizer Beitrag "Giulias Verschwinden" von Christoph Schaub mit Corinna Harfouch und Bruno Ganz.

Das Schweizer Filmschaffen ist dieses Jahr mit 40 Beiträgen recht breit vertreten in den diversen Sparten. Mit Frédéric Mermouds erstem Spielfilm "Complices" steht auch ein heimischer Bewerber im internationalen Wettbewerb: Die Geschichte dreht sich um einen ermordeten jungen Mann, seine verschwundene Freundin und die Aufklärung des mysteriösen Falls. "Complices" ist einer von 7 Erstlingen im Wettbewerb und konkurriert mit 17 weiteren Beiträgen aus 15 Ländern um den Goldenen Leoparden. Die Bewerber kommen vor allem aus Europa und Asien. Aber auch Iran, Brasilien und Argentinien sind vertreten. Österreichische Filme sind nicht im Wettbewerb, doch in der Nebenkategorie "Ici & Ailleurs", die sich dem aktuellen Zeitgeschehen widmet, ist mit der Nordkorea-Doku "Hana, Dul, Sed ..." von Brigitte Weich und Karin Macher eine Weltpremiere aus Österreich zu sehen. Die Doku "PianoMania" von Robert Cibis und Lilian Franck wird - nach seiner Premiere im März bei der Diagonale'09 - in der Settimana della Critica gezeigt.

Wachsende Konkurrenz durch Zürich

Das Zurich Film Festival (ZFF) hat in vier Jahren die Zuschauerzahl von 8.000 auf 36.000 gesteigert und zeigt mittlerweile fast halb so viele Filme wie Locarno. Festivaldirektor Maire befürchtet dennoch keine Konkurrenz, aber Festivalpräsident Solari ist etwas "nervös". "In der Schweiz macht man ein unnötiges Theater um eine angebliche Konkurrenz zwischen den beiden grundverschiedenen Festivals", sagte Maire. Das 1946 gegründete Festival von Locarno legt seit jeher das Gewicht auf den Autorenfilm, während das ZFF sich als Nachwuchsfilm-Festival versteht. Auch dass die "Konkurrenz" an der Limmat mehr Glamour ausstrahlt - mit rotem Teppich und Stars wie Sylvester Stallone - neidet Maire ihr nicht: "Unsere Stars sind in erster Linie die Filme".

Eine Rivalität sieht er jedenfalls im Bereich der Finanzen: "Gewisse Sponsoren bevorzugen möglicherweise einen Werbeauftritt in der Metropole Zürich". Festivalpräsident Marco Solari ist ähnlicher Meinung: Künstlerisch sei das ZFF keine Konkurrenz, sagte er der Zeitung "laRegioneTicino", aber manchen Sponsoren könnte es sympathischer sein als Locarno. "Eine gewisse Nervosität" bereitet ihm die Befürchtung, das ZFF könnte Locarno Bundessubventionen streitig machen: "Wir hoffen, dass der Bund, auch wenn er von Zürcher Politikern unter Druck gesetzt wird, nicht nachgibt und womöglich anfängt, Mittel, die für Locarno bestimmt sind, nach Zürich umzuleiten".

Das Filmfestival von Locarno benötigt mehr Geld, um konkurrenzfähig zu bleiben. Laut Solari würden jährlich rund 500.000 Franken fehlen. Im kommenden Jahr seien die Reserven aufgebraucht. Könne man danach die Einnahmen nicht steigern, müsse das Festival einschneidende Sparmaßnahmen einleiten, sagte Solari in einem Interview mit der Zeitung "laRegioneTicino". Es bestehe die Gefahr, dass Locarno "in die immense Masse der Festivals rutscht, die nichts zählen". Das Budget des 62. Filmfestivals beträgt 11,3 Millionen Franken (knapp 7,5 Mio. Euro). (APA)