Übertriebene Vernetzung fördert Gleichschaltung von Gedanken und Ideen, sagt Rechtsexperte Mayer-Schönberger.

Foto: Newald; Collage: Beigelbeck / DER STANDARD

Standard: In Ihrem neuen Paper für die Fachzeitschrift "Science" fordern Sie mehr radikale Innovationen für das Internet ein. Ist denn so wenig Neues in den letzten zwanzig Jahren entstanden?

Mayer-Schönberger: Es gab schon zahlreiche Innovationen, aber immer wieder radikal Neues zu schaffen scheint sehr schwierig. Microsoft will seit langem grundlegende Neuerungen am Word-Programm umsetzen, auch das verhindern die Nutzer - sie wollen Gewohntes beibehalten. Und das neue Internetprotokoll IPv6 würde die Netzsicherheit verbessern, aber seine Einführung geht schleppend voran. Da sind zu viele Bremser am Werk, die sagen: Das alte Protokoll funktioniert doch noch gut genug.

Standard: Warum und wie wird gebremst?

Mayer-Schönberger: Die Open- Source-Community ist mittlerweile sehr stark vernetzt. Radikale Innovationen werden vor ihrer Einführung auf breiter Basis diskutiert. Man will kompatibel mit der Szene bleiben, nirgendwo anecken. So können die zahlreichen Web-2.0-Anwendungen zu "Groupthink" führen, einer Art Meinungseinheitsbrei durch "Übervernetzung". Damit kann hervorragende Forschungsleistung als solche nicht mehr ausreichend wahrgenommen werden. Da braucht es dann wieder Dissidenten, wie einst die Erfinder von Linux, die ausscheren und sich trauen, etwas abseits des Gewohnten zu beginnen.

Standard: Was raten Sie als Gegenmaßnahme?

Mayer-Schönberger: Für die Entwickler wäre es hilfreich, nicht alle Informationen über ihre Ideen an alle weiterzugeben - Diskussionen wieder in kleineren Gruppen zu halten. So könnten Experimentierräume entstehen, die radikalere Neuerungen zulassen. Auch die Forschungsförderung muss sich tiefgehend ändern. Die honorige Peer-Review, also die Bewertung von Forschungsanträgen und Forschungsergebnissen vor Veröffentlichung durch Fachkollegen, reicht nicht mehr. Denn mit den Kollegen will man sich nicht anlegen, weil man um die Förderung oder um den Abdruck der Studie fürchtet. Das aber fördert wiederum "Groupthink" und bremst wirklich neue Ideen.

Standard: Immerhin hat man Ihr Paper bei "Science" angenommen ...

Mayer-Schönberger: Nach einer massiven Kritik an meiner Kritik an Peer-Reviews. Das war schon amüsant. Eigentlich eine Diskussion auf Metaebene. Kritik wird von Kritikern kritisiert.

Standard: Mussten Sie also doch Anpassungen vornehmen - und die Radikalität in Ihrem Paper zurücknehmen?

Mayer-Schönberger: Ich habe das Paper nur in jenen Passagen, die für mich inhaltlich vertretbar waren, korrigiert. Die wichtigen Punkte sind geblieben.

Standard: Ist das Problem der Übervernetzung auch gesamtgesellschaftlich zu sehen?

Mayer-Schönberger: Absolut. Wir drohen in vielen Bereich übervernetzt zu werden, uns fehlen die Freiräume, völlig Neues zu denken und anzugehen. Anstatt tausenden anderen auf Facebook mitzuteilen, was wir gerade machen, sollten wir wieder mehr auf unsere individuelle Kreativität setzen. Der Kulturanthropologe Jared Diamond hat das einmal mit Kommunikation in Staaten verglichen - und ob man davon auf den langfristigen Erfolg schließen kann. In China ging die Kommunikation rasend schnell, aber sie verdrängte neue Ideen. Im hügeligen Norditalien war sie deutlich langsamer und so konnten sich die Stadtstaaten genug Experimentierraum bewahren, radikal Neues auszuprobieren (Peter Illetschko / DER STANDARD Printausgabe, 24.07.2009)