"Die beste Zeit meines Lebens" , sagt Rafaela Cerda Walker über den Einmarsch der Revolutionäre vor 30 Jahren.

Foto: E. Gollackner

"Er hat furchtbar gerochen" , sagt sie, ihr Sohn, als sie ihn nach langem Warten endlich in die Arme habe schließen können. Rausgefischt aus den einmarschierenden Soldaten auf der Hauptstraße von Managua, sie war eine der wartenden Mütter am Straßenrand. Zwei Wochen lang war seine Guerillatruppe in den Bergregionen abgeschnitten von Strom und Wasser. Zwei Wochen ausharren und warten, ob mit Unterstützung zu rechnen sei. Zu diesem Zeitpunkt, im Juni 1979, waren bereits 80 Prozent der ländlichen Gebiete Nicaraguas in der Hand der Sandinistas. Unsicherheitsfaktoren waren die großen Städte. Um herauszufinden, ob die Revolutionäre auch mit der Rückendeckung der Stadtbevölkerung rechnen konnten, wurde im Juni zum Streik aufgerufen: "Wer uns unterstützt, geht nicht zur Arbeit" , lautete die Devise. Die Geschäfte waren wie leergefegt. "El principio del fin" , also der Anfang vom Ende, sei das gewesen, sagt Rafaela Cerda Walker und lächelt.

Die 78-jährige Frau mit den feinen Gesichtszügen erzählt gerne von dieser Zeit. "Die beste Zeit meines Lebens" , wird sie wenig später sagen, wenn wir den steilen Weg von ihrem Haus zurück ins Fischerdorf San Juan del Sur fahren, wo sie, "Doña Payita" , ein kleines Hotel betreibt. Dort ist sie der kommunikative Mittelpunkt. In unverwechselbarem Englisch, getränkt in spanischem Akzent, plaudert sie mit ihren Gästen aus aller Welt. Dort hat sie vor Jahren ihren dritten Ehemann kennengelernt, den Nordamerikaner Bernard Walker. Ihrer beider Haus auf den Klippen ist Rückzugsort und Alterswohnsitz. Doch noch immer gibt es kaum einen Tag, an dem Rafaela nicht ins Hotel kommt.

"Was meine früheren Ehen anbelangt, war ich nicht sonderlich gut. Gut war ich immer bei der Arbeit", sagt die vierfache Mutter und erzählt vom Leben ohne Männer, und von der dadurch engen Beziehung zum ältesten Sohn Rafael. Als er mit 21 das Haus verlässt, um dem sandinistischen Widerstand beizutreten, ist sie untröstlich; als er Briefe schreibt und seine Beweggründe erklärt, sei sie "aufgewacht" . Rafaela Cerda ist schon Ende 40, als sie zu einer sogenannten "Kooperative" wird: Sie schmuggelt Informationen und Informanten, tritt der sandinistischen Frauenbewegung bei und verliert wegen ihrer Aktivitäten den Job. "Nicaragua war ein Land voller Unterdrückung."

Fast ein halbes Jahrhundert lang, seit den 1930ern, regierte in Nicaragua der Somoza-Clan, eine von den USA gestützte Militärdiktatur, die den Einfluss in Mittelamerika sichern sollte. Durch Enteignung und Betrug - beispielsweise in Form der Unterschlagung von Hilfsmitteln, die Nicaragua nach dem großen Erdbeben von 1972 erreichten - häuften die Somozas ihr Vermögen an. Wichtigstes Mittel zum Machterhalt war die Guardia Nacional de Nicaragua, die Nationalgarde, eine von der US-Regierung ausgerüstete Truppe, die politisch wie auch privat genutzt wurde. Verfolgung und Hinrichtung waren Methoden, jede Art des Widerstands niederzuschlagen. Bei Massendemonstrationen 1978 gab es 5000 Tote und mehr als 10.000 Verletzte unter der Zivilbevölkerung.

Das war den USA zu viel: Sie kürzten Präsident Anastasio Somoza Debayle die Militär- und Wirtschaftshilfe. Alle sich im Widerstand befindlichen Gruppen schlossen sich zusammen, es kam zur Wiedervereinigung der seit 1975 gespaltenen FSLN, und gemeinsam wurde das Land nach und nach infiltriert und übernommen. Mit dem Einmarsch der Revolutionäre am 19. Juli 1979 wurden 45 Jahre Militärdiktatur mit einem Schlag beendet. Das ganze Land war in Aufruhr, in Managua an der Plaza de la revolución drängten sich die Menschenmassen. "Wir fühlten uns wie in den Flitterwochen! Somoza war weg, wir konnten es kaum glauben."

Nach der kurzen Umarmung beim Einmarsch versuchte Rafaela ihren Sohn in der Kaserne zu finden. Sie brachte Essen mit. Doch er wollte nichts davon haben. "Er sagte, er könne nicht essen, während andere hungern" , so die harte Botschaft ihres Sohnes. An diesem Tag begann das Land, sein Gesicht zu verändern. Nicht nur militärisch, auch theoretisch wurde die Revolution von langer Hand geplant. "Zwölf Männer - Schriftsteller, Intellektuelle, Geistliche, unter ihnen Ernesto Cardenal und Sergio Ramírez, waren der politische Arm der Sandinistas. Ende der 70er sind sie durch die Welt gereist, haben um Solidarität für Nicaragua geworben. Und sie haben Programme entwickelt." Mit der Machtübernahme konnte der "Sandinismo" sofort beginnen.

Walker erzählt von der Emanzipation der nicaraguanischen Frauen ("Davor waren wir Menschen dritter Klasse" ), von Agrarreformen und von der landesweiten Alphabetisierungskampagne. Davon, dass auch sie ihre Teenager-Kinder für fünf Monate aufs Land schickte, wo sie tagsüber auf den Feldern mithalfen und abends den Familien im Schein einer Taschenlampe Lesen und Schreiben beibrachten. Sie erspart sich nicht die Erinnerung an ihren 15-jährigen Sohn, der plötzlich vor der Tür stand und nicht wieder zurückwollte. "Es war schwer, ihn zu überzeugen. Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn er es nicht gemacht hätte. Die Familien waren abhängig von ihm." Und leise fügt sie an: "Liebe ist Hingabe, nichts als Hingabe."

Während wir reden, rattert draußen laut das Dieselaggregat. Wieder einmal ist der Strom ausgefallen. Man ist darauf vorbereitet; Nicaragua ist das zweitärmste Land Lateinamerikas; seine Wirtschaft ist eine wankelmütige Genossin. Rafaela erzählt weiter, vom damaligen Widerwillen der wohlhabenden Bevölkerung, die einen Mangel an Arbeitskräften für niedrige Dienste befürchtete. Diskussionen darüber führte sie mit ihrem Exmann: "Ich sagte ihm, die Leute müssen Lesen und Schreiben lernen, um ihre Rechte zu kennen. Er war anderer Ansicht. Das war das Ende der Beziehung."

Rafaela erzählt vom Bürgerkrieg, als ihr Haus zum Hospital gemacht wurde. Zu dieser Zeit besaß sie eine Waffe. "Ich bin zum Militär gegangen, um schießen zu lernen. Damals war ich 53 Jahre alt." Es war Samstagnachmittag, sie hatte die ganze Woche gearbeitet, es war heiß: "Da bin ich umgekippt!" Sie schlägt lachend die Hände vors Gesicht. "Sie mussten mich zum Rot-kreuz-Zelt bringen."

Wenn Rafaela Cerda Walker ihre Geschichten erzählt, fallen immer wieder Bibelzitate, sie selbst sieht sich als "christliche Sozialistin" . Wie ist das vereinbar - Gewalt und Gläubigkeit? "Es gibt zwei Arten von Gewalt" , erklärt sie: "Die Gewalt der Regierung, die die Armen arm hält: keine Ausbildung, keine Hoffnung, kein Leben. Dann gibt es die Gewalt der Armen, die leben möchten. Wir mussten töten, um zu leben. Auch Jesus hat gekämpft. Deshalb wurde er umgebracht."

60.000 Menschen starben

Und 60.000 Menschen starben in Nicaragua, der Großteil im sogenannten Contra-Krieg: Die USA befürchteten mit der Machtübernahme der Sandinisten neben Kuba ein weiteres kommunistisches Standbein in Mittelamerika. Weil Aushungerung durch Boykott scheinbar nicht genügte, wurde eine Gruppe Oppositioneller, die Contras, mit Waffen und Informationen beliefert, die sie so mächtig machten, dass sich der Guerilla-krieg zum Bürgerkrieg ausweitete. Nicaragua wurde zum Spielball des Kalten Kriegs. Die Sandinisten wussten Bescheid, sagt Rafaela: "Zum ersten Mal waren wir kein Schoßhund der Amerikaner mehr. Wir mussten das verteidigen, mit allem, was wir hatten."

Am 27.Juni 1986 wurden die USA vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag für ihre indirekte und direkte militärische Teilnahme am Contra-Krieg verurteilt. Die USA weigert sich bis heute, das Urteil anzuerkennen. "Ich bin seit fast zehn Jahren mit einem Amerikaner verheiratet. Wenn ich die Grenze passiere, bringen sie mich noch immer jedes Mal in eine kleine Kammer und lassen mich für zwei Stunden nicht raus."

In Nicaragua wurde die Utopie in die Realität umgesetzt, allen äußeren Umständen zum Trotz, und wo sie nicht gepasst hat, wurde sie passend gemacht: Von der Freiwilligkeit zur Verpflichtung, von der Möglichkeit zur Notwendigkeit, ohne Wenn und Aber. Bei den Wahlen 1990 wurde klar, dass die Unterstützung der Bevölkerung verloren war. "Menschen wählen nicht mit dem Herzen. Sie wählen mit dem Magen. Die Familien haben gehungert, und sie wollten ihre Söhne nicht mehr in den Tod schicken." Die Unión Nacional Opositora, eine Koalition oppositioneller politischer Parteien, erreichte 54,7 Prozent. Die FSLN verlor ihre Vormachtstellung. "Korruption und Postenschacher, das war das Ergebnis dieser Niederlage" , sagt sie.

Heute, 2009, wird Nicaragua von einem Präsidenten regiert, dem offen Betrug vorgeworfen wird: Der Sandinist Daniel Ortega - bereits zum zweiten Mal im Amt - weigert sich standhaft, internationale Wahlbeobachter zuzulassen. Auf den Straßen begrüßen sich die Menschen scherzhaft mit einer Geste, drei schnelle Bewegungen, eine Art nonverbale Geheimsprache: Liste 2 - keine Arbeit - nichts zu essen. Eine Warnung, bei den nächsten Wahlen keinesfalls für die Sandinisten zu stimmen.

War die Revolution ein Fehler, im Nachhinein betrachtet? "Nein, ich glaube nicht. Dinge geschehen, und es gibt immer einen Grund, warum sie geschehen. Der Samen, den die Revolution gesät hat, ist noch immer hier. Nicaragua war die zweite blutige Revolution in Lateinamerika nach Kuba. Und wie sieht es jetzt aus? Viele andere Staaten wurden umge-wälzt ohne Revolution. Die Menschen wissen Bescheid. Egal wie mächtig ein Diktator ist: Wenn wir uns zusammenschließen, ist alles möglich. Das war die wichtigste Lektion, die wir gelernt haben." Sie streicht über den Bildband aus den 80ern, der vor uns liegt und das Foto eines jungen Soldaten zeigt, die Handgranate um den Hals und ein stolzes Strahlen im Gesicht.

Rafaela Cerda Walker behauptet von sich selbst, die Revolution hätte sie zu dem gemacht, was sie heute ist. Auf dem Weg zurück ins Dorf bittet sie ihren Ehemann, kehrtzumachen und in die eben befahrene Straße zu biegen. Sie glaubt, sie habe etwas gesehen: Ein Mann, viel zu alt, und ein Mädchen, viel zu jung. "Der Tourismus ist wichtig, aber er bringt fürchterliche Dinge mit sich" , sagt sie, mehr zu sich selbst. Ihr Mann zieht die Augenbrauen hoch, wendet den Wagen, und Rafaela lacht wieder ihr herzhaftes Doña-Payita-Lachen, klopft ihm zärtlich auf den Oberarm und sagt: "I think I have to get a gun, mi amor." (Von Elisabeth Gollackner/DER STANDARD, ALBUM, 18./19.7.2009)