"Die Kunst der Modellierung ist, das Level an Abstraktion zu finden. Wir sind in der Biologie noch nicht so weit."

Standard: Sie konnten sich 2008 mit Ihrem Kollegen Ross Levine einen Forschungsetat der National Institutes of Health über 2,6 Mio. Dollar sichern. Was wird damit beforscht?

Michor: Wir verwenden mathematische Modelle und Mausmodelle, um eine bestimmte Art von Blutkrebs, die chronische myeloische Leukämie, besser zu verstehen. Mit mathematischen Methoden wollen wir erkennen, wie Patienten auf Medikamente ansprechen und welche davon am effektivsten sind. Es gibt mittlerweile drei Pharmazeutika, die das Wachstum dieser Krebszellen hemmen. Das bedeutet, dass sich ganz bestimmte Moleküle pharmakologisch angreifen lassen, was mit sehr geringen Nebenwirkungen verbunden ist. Mit Mathematik und Statistik wollen wir herausfinden, wie man Pharmazeutika am besten dosiert, um das Risiko, dass ihre Wirksamkeit im Menschen nachlässt, möglichst gering zu halten. Was wir dabei herausfinden, wird dann am Mausmodell überprüft.

Standard: Krebsforscher haben bisher nur selten mit Mathematikern zusammengearbeitet. Warum eigentlich?

Michor: Man hätte vermutlich früher anfangen können. Aber die Biologie ist so komplex, da ist es schwierig, die richtigen mathematischen Modelle auszusuchen. In einer einzigen Zelle geschehen so viele chemische Reaktionen zur selben Zeit. Die Kunst in der Modellierung ist, das richtige Level an Abstraktion zu finden. Daher ist die Mathematik in der Biologie auch noch nicht so weit wie in der Physik. Um herauszufinden, wie schnell ein Apfel auf den Boden fällt, lässt man ihn fallen. Das Experiment ist unbeeinflusst davon, ob ich Ihnen nebenbei eine Geschichte erzähle. In der Biologie existieren zahllose Abhängigkeiten. Wenn das Interesse der Expression eines bestimmten Clusters von Genen gilt, ist es unter anderem ausschlaggebend, mit welchen Wachstumsfaktoren die Zelle behandelt wird und ob sie sich in einer Petrischale oder im Gewebe des lebenden Organismus befindet.

Standard: Wann gab es eigentlich die ersten mathematischen Modellierungen in der Krebsforschung?

Michor: Sie gehen schon auf die 1950er-Jahre zurück. Peter Armitage und Richard Doll untersuchten das Alter, in dem bei Patienten Krebs diagnostiziert wurde, mit mathematischen Methoden. Dabei entstand die berühmte Theorie der vielstufigen Karzinogenese, die besagt, dass eine Zelle mehrere Mutationen ansammeln muss, bevor sie zur Krebszelle wird. Es war in den 1950er-Jahren noch nicht klar, dass Krebs genetische Ursachen hat, weil die Doppelhelix gerade erst entdeckt wurde. Danach ist alles eher dünn gesät. So richtig angefangen hat es erst vor ungefähr zehn Jahren.

Standard: Lässt sich also jeder Krebs mathematisch verstehen?

Michor: Es gibt Regeln, die sich mathematisch beschreiben lassen und die bei jeder Krebsart eine Rolle spielen. So hat etwa jeder Krebs mit Onkogenen und Tumorsuppressorgenen zu tun. Aber es gibt auch krebsspezifische Faktoren, wie die Gewebestrukturen, in denen der Krebs anfängt. Diese sind bei Leukämie anders als bei Dickdarmkrebs. Die Mathematik lässt sich aber bei allen Krebsarten sinnvoll anwenden.

Standard: Ist es bei Medizinern umstritten, Krebs mit Gleichungen zu beschreiben?

Michor: Ja, eigentlich schon. Von Klinikern höre ich relativ oft, dass die Biologie ja viel zu kompliziert sei und ein einfaches mathematisches Modell nichts ausrichten könne. Ein Grund für diesen Widerstand ist wohl auch, dass die Mathematik in der medizinischen Ausbildung keine große Rolle spielt. Und was man nicht kennt, schmeckt einem nicht. Aber ich glaube, das ändert sich schön langsam. Hier am Sloan-Kettering Cancer Center gibt es eine eigene Abteilung für computerunterstützte Biologie. Wir sind fünf Professoren, jeder mit seiner eigenen Forschungsgruppe. Die meisten, die hier arbeiten, sind überaus offen für solche Zugänge. Es gibt einfach eine Schwelle, die es zu überspringen gilt.

Standard: Sie waren zuvor in Harvard. Welche Gründe hatten Sie, diese Eliteuniversität zu verlassen?

Michor: Das ist einfach der normale Karriereweg. Man sollte nicht zu lange an einer Universität bleiben, das schränkt das Blickfeld ein wenig ein. Ich habe in Harvard mein Doktorat gemacht und meine Postdoc-Zeit absolviert. Es ist gut, wenn es dann eine Luftveränderung gibt. Hier bei Sloan-Kettering liegen Krebskrankenhaus und Forschungsinstitut gleich nebeneinander. Das eröffnet einen sehr guten Zugang zu medizinischen Daten. Das ist wichtig, weil ich natürlich so wirklichkeitsbezogen wie möglich arbeiten möchte.

Standard: Gibt es konkrete Pläne für die Zukunft am Cancer Center?

Michor: Es gibt ein paar große Fragen in der Krebsforschung - zum Beispiel, welche der vielen Mutationen, die in einem Krebs vorkommen, das Wachstum antreiben. Ihre Identifikation und die Entwicklung von Medikamenten, die die Effekte dieser Mutationen unterbinden, ist das Um und Auf. Damit verbunden ist die Frage, wie existierende Medikamente am besten einzusetzen sind, um die Sterblichkeitsrate zu senken. Wichtig ist auch die Prognose. Sobald man weiß, welche Mutationen die Evolution des Krebses wann antreiben, können wir genauer feststellen, in welchem Stadium ein frisch diagnostizierter Patient ist. Bei alldem kann die Mathematik helfen.

(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8. Juli 2009)