Biomathematik klingt interdisziplinär, in der Forschungspraxis heißt das aber, dass die Mathematiker auf die Biologen zukommen. "Wir müssen die Distanz überbrücken", weiß Christian Schmeiser aus eigener Erfahrung. Der Mathematiker von der Universität Wien kooperiert mit dem Institut für Molekulare Biotechnologie der ÖAW. "Wir zeigen den Biologen keine Formeln, sondern kommunizieren über Bilder." Denn sie seien grafische Darstellungen gewohnt.

Der Nutzen ist hingegen durchaus gegenseitig. "Wir liefern Anregungen zu Varianten von Experimenten. Umgekehrt wird durch die Fragestellungen aus dem Labor eine neue Mathematik angeregt", so Schmeiser. Für eine Simulation müsse man den Vorgang in allen Details darstellen, während Biologen sich auf bestimmte Aspekte konzentrieren würden: "So entstehen Diskussionen." Schmeiser möchte dynamische Vorgänge mathematisch beschreiben, also wie etwa weiße Blutkörperchen durch die Zellen "kriechen". Mithilfe von Modellierungen und Simulationen soll so die Immunabwehr des menschlichen Organismus besser verstanden werden.

Die Anwendungsbereiche der Biomathematik gehen also weit über jene der Krebsforschung (siehe Interview) hinaus. Gerade in der Ökologie und in der Populationsgenetik gehören mathematische Methoden schon seit Jahrzehnten zum festen Methodeninventar. Anders lässt sich die gewaltige Datenflut gar nicht mehr interpretieren. Die Vorstellung von der Biologie als "weicher" Naturwissenschaft im Gegensatz zur "harten" Physik ist also irreführend, ebenso wie der vermeintliche Kontrast von "lebendigem" und "totem" Material.

In einzelnen Bereichen gibt es nämlich erstaunliche strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den Disziplinen, etwa was das Verhalten von Teilen in komplexen Systemen angeht. Joachim Hermisson forschte bis zu seiner Promotion im Bereich der statistischen Physik bevor er dann in die Evolutionsbiologie wechselte. Seit Oktober 2007 ist er im Rahmen der Initiative "Mathematik und ..." des Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds Stiftungsprofessor für Mathematik und Biowissenschaften an der Universität Wien.

Hermisson forscht zur Frage, wie Adaptation im Evolutionsprozess funktioniert. Verändern sich Arten durch die langsame Anhäufung von Änderungen oder eher sprunghaft? Um dies herauszufinden, speist er nicht nur die "klassischen" Größen wie Mutationsrate und Selektionsstärke in seine Simulation ein, sondern bezieht auch die Geschwindigkeit der Umweltveränderungen mit ein. Bei der Modellierung kommen keineswegs nur altgediente mathematische Werkzeuge zur Anwendung, diese müssten eher für die jeweilige Fragestellung maßgeschneidert werden. Die immer größer werdende Masse an Daten sei für die Biomathematik also weniger ein Problem als ein Sprungbrett zur Entwicklung neuer Methoden und Konzepte, freut sich Hermisson. (Oliver Hochadel, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8. Juli 2009)