Chris Isaak: "Mr. Lucky"
Seit Wochen hängt der Himmel voller schwüler Schwaden, da kommt's auf eine mehr auch nicht mehr an: Wenn sich Chris Isaak mit Country-Sängerin Trisha Yearwood zum Schmachtrefrain von "Breaking Apart" vereinigt, weckt das Erinnerungen an die Schallwaffe in Tim Burtons "Mars Attacks". Als Motto könnte über Isaaks neuem Album "Probier's mal mit Gemütlichkeit" stehen und zu einigen Midtempo-Hadern würden selbst Kenny Rogers-Fans wohlige Kreise auf dem Heuboden drehen. Aber wie gehabt ist's die unvergleichliche Stimme, die alles zusammenhält. "Mr. Lucky": Ein Album, das niemandem weh tut (außer Marsianern), so seine Momente hat ("Baby Baby", "We Let Her Down) und einfach zur Jahreszeit passt. (Reprise Records/Warner)

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Chris Isaak

Coverfoto: Reprise Records

Reykjavík!: "The Blood"
Weiter könnte die Schere zwischen Text und Ton kaum aufgehen als beim Grunz-, Gröl- und Gitarrendresch-Stück, das unter dem Titel "Kate Bush" läuft. Mit Songtiteln hat's das isländische Sextett sowieso - auch "Fokk Nietzche" und "We are not ready for a relationship with god, what's wrong with you?" stehen auf dem Menü. Reykjavík! dürften jedenfalls das Lärmigste sein, das Island seit den Sugarcubes-Vorläufern KUKL in den 80ern auf die Welt losgelassen hat. Dass das Ganze auf demselben Label erscheint wie eben erst das jüngste in Streicherarrangements badende Werk von Benni Hemm Hemm, dürfte an der geringen Größe der nationalen Infrastruktur liegen - musikalisch liegen da Welten dazwischen. Respektive Weltuntergänge. (Kimi Records/Hoanzl)

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Reykjavík!

Coverfoto: Kimi Records

Madness: "The Liberty of Norton Folgate"
Eine Platte für's fröhliche Mittelalter, aber he: der durchschnittliche derStandard.at-Leser ist 38 Jahre alt (na, wer erkennt sich da wieder?). Selbiges galt für Suggs & Co beim Erscheinen ihres letzten Albums ... inzwischen haben sie ein Jahrzehnt mehr um die Taille. Umso freudiger die Überraschung: "The Liberty of Norton Folgate" ist eine kunterbunte Würdigung des gleichnamigen Londoner Grätzls ... und wie schon bei Darren Hayman ("Pram Town") oder Saint Etienne ("Tales from Turnpike House") scheint ein geografisches Motto die musikalische Rückbesinnung auf die 60er Jahre zu fördern: Durch das ganze Album weht der Atem der Kinks, am besten spürbar bei "Sugar And Spice". Weiters vertreten: Ein Mariachi-Intro, Reggae, eine Polka und jede Menge Pop - darunter auch Stücke mit dem unverkennbaren Touch of Madness wie "That Close" oder das Duett "On The Town" mit Rhoda Dakar, einer weiteren Veteranin der Ska- und 2 Tone-Szene. Das ist ein wirklich gutes Album, da beißt die Maus keinen Faden ab! (Ministry of Sound/Edel)

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Madness

Coverfoto: Ministry of Sound

Niobe: "Black Bird's Echo"
Avantgarde-MusikerInnen scheint es mit der Zeit zum eingängiger Hörbaren zu ziehen (außer sie beginnen wie Björk im Pop und müssen dann alles nachholen, was sie zuvor nicht erarbeiten konnten). Die Kölnerin Yvonne Cornelius war lange Jahre solitär in ihrem elektronischen Mini-Klangkosmos unterwegs, ehe sie sich nun mit Jazz-Musikern - unter der Leitung von Ex-Pere Ubu-Mann Tony Maimone - ins Studio stellte: Gar keine so überraschende Kombination, war doch Niobes Liebe zu Billie Holiday schon auf früheren Alben unverkennbar: Immer wieder schob sich da Gesang, der durch einen laaangen Trichter von der anderen Seite der Scheibenwelt zu kommen schien, durch die Arrangements. - Auf "Black Bird's Echo" setzt sich dies mit Stücken wie "Lovely Day" (hat einen Touch von Doris Day!) fort, insgesamt rückt die Stimme aber stärker ins Diesseits: Etwas konventioneller als von Niobe bislang gewohnt, aber immer noch atemberaubend schön. (Tomlab/Trost)

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Niobe

Coverfoto: Tomlab

La Roux: "La Roux"
Klon-Alarm! Mit Patrick Wolfs "Hard Times" und La Roux' "Bulletproof" sind binnen kürzester Zeit zwei Videos auf den Markt gekommen, die den Eindruck erwecken, in "Tron" würde gerade der Aufstand der Betonfriseure toben. Solche optischen Vergleiche stehen Elly Jackson, der nach außen gekehrten Hälfte von La Roux, allerdings immer noch besser zu Gesicht als die akustischen mit Little Boots, mit der das Londoner Duo derzeit ständig in einen Topf geworfen wird. Denn während Victoria "Little Boots" Hesketh wie eine plattfüßige Kylie auf die Charts lostrampelt, haben sich La Roux doch eine gewisse metallische Eleganz bewahrt. Electropop mit ein bisschen viel Retro-Faktor (die gelesenen Vergleiche reichen von Yazoo über die Eurythmics bis zur Schlagertante Aneka), um den gewaltigen Hype um La Roux vollauf zu rechtfertigen - aber einige knackige Stücke werden allemal geboten. (Polydor/Universal)

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La Roux

Coverfoto: Polydor

Die Geschwister Pfister: "In the Clinic"
Totgesagte leben bekanntlich länger - vor allem wenn sie selbst die Partezettel verteilt haben. "In the Clinic" ist bereits das zweite neue Programm seit der zeitweiligen Auflösung der Geschwister Pfister 2003. Natürlich ist's auf Konserve nur die halbe Sache (live sind sie Oktober/November wieder in Österreich zu Gast), aber alleine schon das "Language is a Virus"-Cover ist's wert: Das Jo Roloff Terzett gibt wirklich alles, um möglichst viel an Laurie Anderson-Feeling an Ursli Pfisters breitem Fake-Texanisch vorbeizuevakuieren. Dazu gibt es Zuckerbäckerarrangement-Versionen von unter anderem "Feelin' Groovy" oder des "Spiderman Theme", albtraumartige Fundstücke aus den 50ern und natürlich auch Nachrichten aus Fräulein Schneiders höchstpersönlicher Backhendlzeit östlicher Prägung: "Kirchweih in Tschenstochau". Schaurig-schön! (Traumton/Hoanzl)

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Die Geschwister Pfister

Coverfoto: Traumton

Joker's Daughter: "The Last Laugh"
Als fahrende Spielfrau zieht die griechischstämmige Londonerin Helena Costas nicht  nur durch die Lande, sondern auch durch die Jahrhunderte. Im Stil einer altertümelnden Troubadourin (ist ein geschlechtlicher Widerspruch in sich, jaja ...) ist sie the voice of Merlin echoes through the moors singend ebenso zuhause wie im zeitgenössischen Folk oder dem Drehorgel-Sound einer Straßenmusikantin ("Yellow T Pot"; da fehlt nur noch das Äffchen im Jackett, das Münzen einsammelt). Dass sie für "The Last Laugh" mit dem New Yorker Produzenten Brian Burton alias Danger Mouse zusammengearbeitet hat, äußert sich in elektronischen Arrangements, die sich erstaunlich passgenau in den "klassischen" Rahmen einfügen: Keine Dekonstruktion und auch keine plakative Modernisierung der langen britischen Folk-Tradition also, sondern eine sanfte Erweiterung. (Doube Six Records/Hoanzl)

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Joker's Daughter

Coverfoto: Double Six Records

Das Bierbeben: "Das Bierbeben"
Es kommen dunkle Tage über uns! Dass sich das Bierbeben eigentlich aus einer Schnittmenge verschiedener Bands (darunter Tocotronic und Schrottgrenze) zusammensetzt, ist ihm auf seiner dritten Platte überhaupt nicht mehr anzuhören: Die aktuellen vier Mitglieder haben an Gitarre, Bass und Analog-Synthesizern ungeahnte Kompaktheit erreicht. Mit dem Deutschpunk der späten 70er/frühen 80er greifen sie - und zwar begnadet gut!  - eine musikalische Form auf, die von der NDW-Industrie einst ausgewaschen, verraten und verkauft wurde - die sich aber bestens eignet, unbequeme Botschaften in komprimierter und kindlich einfach wirkender Form unters Volk zu bringen. Wobei diese "Kinder" die gleichen fiesen und hochintelligenten Wechselbälger sind, die dem Musik-Establishment vor 30 Jahren die Grausbirnen aufsteigen ließen. Schwerverdaulich ist das Bierbeben natürlich immer noch - allerdings in seiner aktuellen, unerhört melodiösen, Form umso leichter zu schlucken. Brisante Kombination! (Shitkatapult/Trost)

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Das Bierbeben

Coverfoto: Shitkatapult

Polly Scattergood: "Polly Scattergood"
Halb Lolita, halb verhuschte Bachmannpreis-Leserin: Mit dieser visuellen Leitlinie präsentiert sich die Engländerin Polly Scattergood konsequent - auch auf dem Cover ihres Debütalbums. Musikalisch ist dieses von Bruchlinien geprägt: Songs beginnen fragil wie mundgeblasenes Glas, um dann so richtig in Fahrt zu kommen ("Nitrogen Pink", Anspieltipp!) oder drehen sich wie ein Selbstbeschwörungs-Mantra (I am strong, I am not weak ...) im Kreis. "Polly Scattergood" ist ein feines Gespinst, das unter hoher unterschwelliger Spannung vibriert. Nicht zuletzt unter nervlicher - zumindest machen das die Texte glauben, die von seelischen wie körperlichen Verletzungen erzählen: Breathe in, breathe out, I can't let you go yet. Ein Album vor allem für Fans von Tori Amos und PJ Harvey. (Mute/Import)

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Polly Scattergood

Coverfoto: Mute

The Lonely Rat: "The Lonely Rat"
Primär an britischen Vorbildern orientierte sich das Mailänder Quartett Merci Miss Monroe in Sachen Gitarren-Pop. Frontmann Matteo Griziotti ist nun nach Berlin gezogen - die Stadt, in der kaum eine U-Bahnfahrt ohne Besuch von Zeitungsverkäufern und Akkordeon-Duos vergeht. Für sein erstes Solo-Abum hat Matteo alias "The Lonely Rat" gerade soviel Instrumentarium verwendet, wie man schultern kann, wenn man einen Waggon entern will, um den Passagieren biografische Balladen vorzuklampfen. Etwas wie every stroke and strum on this guitar stands for a kiss I never gave you oder another year - another 700 lonely meals - insgesamt gewissermaßen die akustisch-intime Version von MMM. Als Kreszendo dann noch schnell das Titelstück emphatisch gejault, wenn die Streife schon in Sichtweite rückt. Demnächst vielleicht schon auf Ihrer Linie! (Ghost Records/Cargo)

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The Lonely Rat

Coverfoto: Ghost Records