Die Anhänger der Protestbewegung im Iran haben mittlerweile einen neuen historischen Bezugspunkt gefunden: hundert Jahre Kampf für die Demokratie im Iran. Im Sommer 1909, im Rahmen der Verfassungsrevolution, wurde Mohammed Ali Schah abgesetzt, der die 1906 errungene Verfassung außer Kraft gesetzt hatte. Das subversiv eingesetzte Gebet - jeden Abend hallen in Teheran „Allahu Akbar"-Rufe von den Dächern wider - hatten übrigens auch schon die damaligen Revolutionäre parat (wie ja auch die von 1979): Als sich Teile der Geistlichkeit auf die Seite des Schahs stellten, verlegten sich die Kämpfer für den Parlamentarismus auf das öffentliche Dauerrezitieren religiöser Texte.

Hundert Jahre danach warten also neue Revolutionäre auf einen neuen Systemwandel. Ihre Führerfigur, Mir-Hossein Mussavi, bleibt in diesem Kontext ein Revolutionär wider Willen: Er möchte nichts von „grüner" oder „samtener" Revolution hören, wenn schon Revolution, dann besteht er darauf, dass er nur die „Fortsetzung der Islamischen Revolution" im Sinn hat.
Das führt zur kuriosen Situation, dass auch jene unter seinen Anhängern, die jahrelang beinahe allergisch auf den Namen Khomeini reagiert haben, heute nichts dagegen haben, wenn der 1989 verstorbene Revolutionsführer auf ihrer Seite in die Schlacht geworfen wird. Das nennt man einen Paradigmenwechsel.

Wobei die Seite, die Mussavi an der Islamischen Republik verteidigt, eben die republikanische ist: Wenn es keine glaubwürdigen Wahlen mehr gibt, dann ist es mit dieser Republik zu Ende. Revolutionär wurde Mussavis Position jedoch in jenem Moment, als er das Machtwort des religiösen Führers Ali Khamenei, der Letztinstanz des Systems, nicht als solches akzeptierte. Da lehnt sich zum ersten Mal die Republik gegen das Islamische an ihr auf.
Damit ist das Angebot Khameneis von Freitag hinfällig, zur alten Kohabitation der Gruppen zurückzukehren - die sonst eben noch etwas unbequemer und spannungsgeladener gewesen wäre als in den letzten 30 Jahren (und in den vergangenen Jahren immer mehr). Der einzige Weg, den Khamenei offerierte, war die totale Unterwerfung, und das war auch für den prinzipiell systemtreuen Mussavi zu viel.

Zugetraut hat ihm diese Rebellion kaum jemand, und sie ist wohl nur zu erklären durch die ungeheure Kraft, die die Protestbewegung entwickelt hat. Das ist kein Sektor der Gesellschaft - wie bei den Unruhen 1999 die Studenten -, das ist die Gesellschaft. Es geht quer durch. Deshalb kann auch die Protestführung selbst Teil der politischen Elite sein, wie Mussavi.
Niemand weiß heute, wie die Sache enden wird, zu wie viel Brutalität das Regime, zu wie viel Widerstand die Bewegung imstande ist. Eines ist sicher: Nichts wird mehr wie zuvor. Es ist das Ende der Islamischen Republik in dieser Form. Wenn die Macht obsiegt, werden die Menschen nur mehr mit noch viel mehr Repression regierbar sein. Ein abgespaltener Teil der Gesellschaft, die Regimeklasse, bekennt sich dann offen zu dem, was sie ohnehin schon immer gemacht hat: die anderen, die - meist - schweigende Mehrheit, zu unterdrücken.
Wenn die Protestbewegung obsiegt, dann gibt es wieder einige mögliche Abzweigungen. Kein Kenner der Region zweifelt daran, dass die iranische Gesellschaft eine demokratische Reife hat, die in der Region ihresgleichen sucht: Sie ringt ja, siehe 1909, seit langem darum. Aber die Dynamiken, die sich entwickeln können, die Kräfte, die jetzt hinter anderen noch nicht sichtbar sind, kennt niemand. Mussavi wollte nur faire Wahlen, in diesem System. Das war recht und billig. So billig, wie es nun für niemanden mehr werden wird, auf keiner Seite. (DER STANDARD, Printausgabe, 22.6.2009)