Am Abend des 23. Juni 1859 hallte auf dem Platz des kleinen lombardischen Ortes Cavriana das Getrappel von Pferdehufen wider. Stiefel knallten auf das Pflaster, Säbel klirrten, Kommandoschreie erfüllten die Luft. Im Nu verwandelte sich Cavriana in einen Kasernenhof. Die Einwohner standen unter Schock. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass österreichische Truppen hier auftauchten.

Ja, es war Krieg, und die Soldaten waren in den vergangenen Wochen zu Zehntausenden durch diese Gegend gezogen. Doch die Österreicher hatten am 4. Juni eine Niederlage gegen die verbündeten Franzosen und Italiener bei Magenta erlitten. Danach hatten sie sich hinter dem weiter im Osten liegenden Fluss Mincio nicht weit von Verona zurückgezogen. Der Mincio bildet für jeden Angreifer eine schwer zu überwindende Hürde. Doch jetzt ritt kein Geringerer als Franz Joseph I, der Kaiser Österreichs, in Cavriana ein, in prächtiger Uniform, gefolgt von seinem Generalstab, von Offizieren und Ordonanzen. Er war 29 Jahre jung, trug einen schmalen Oberlippenbart, seine Gesichtsfarbe war bleich, die Wangen ein wenig rosig. Warum bloß hatte Franz Joseph entschieden, mit seiner Armee über den Mincio zu setzen und dem Feind entgegenzumarschieren? Die Kundschafter berichteten, dass die Franzosen seit ihrem Sieg bei Magenta sehr langsam und lustlos vorrückten. Ihr Schwung schien zu erlahmen. In der Tat ließ sich der französische Kaiser Napoleon III. nach dem Sieg bei Magenta sehr viel Zeit beim weiteren Vormarsch.

Franz Joseph I. hätte also hinter dem Mincio warten können, bis der Willen dieses ohnehin etwas zweifelhaft motivierten Gegners vollständig erlahmte. Aber der Kaiser war bekannt dafür, dass er dazu neigte, komplexe außenpolitische Probleme auf eine Frage der Ehre zu reduzieren. In einem Duell wartet man nicht hinter einer Balustrade, bis der Gegner seine Kugel verschossen hat. Man stellt sich dem Feind.

Das Recht war auf der Seite des Habsburgers. Laut bestehender Verträge gehörten die Lombardei und Friaul-Julisch Venetien zum Kaiserreich. Doch wen kümmerte das? Der Nationalismus war die alles umstürzende Kraft. Das Haus Piemont-Sardinien hatte sich an die Spitze italienischer Freiheitsbestrebungen gesetzt. Camillo Cavour, Premierminister in Turin, nutzte die Gunst der Stunde nahezu genialisch. Zuerst schickte er 1855 ein piemontesisches Heer in den Krimkrieg, um die italienische Sache zu internationalisieren, dann gewann er Napoleon III. für sich, und schließlich provozierte er die Österreicher so lange, bis diese in die Falle tappten, und Piemont den Krieg erklärten. Franz Joseph war nach Italien gekommen, um sein Recht zu verteidigen, Camillo Cavour aber hatte die geschichtemachende Kraft der Nation auf seiner Seite.

In derselben Nacht erreichte der Genfer Geschäftsmann Henry Dunant die Stadt Castiglione delle Stiviere, wenige Kilometer von Cavriana entfernt. Den ganzen Tag über hatte Dunant seinen Kutscher zur Eile angetrieben. Der 23. Juni war ein glühend heißer Tag gewesen. Der Kutscher ließ die Peitsche in immer kürzeren Abständen auf die Pferde niedersausen. Draußen floss die Lombardei vorbei, die Ausläufer der Alpen rollten wie Meereswellen auf und ab.

Dunant hatte keine Augen für dieses Naturschauspiel, denn er flüchtete vor dem drohenden Bankrott. Er hatte sich mit seinen Investitionen in Algerien, seit 1830 französische Kolonie, verspekuliert. In der Tasche trug er ein Empfehlungsschreiben, ausgestellt von einem Mann, der Zugang zum Hof Napoleons III. hatte. Dieses Dorf Solferino sollte für Henry Dunant zum Schicksalsort werden.

Die Schlacht begann im Morgengrauen, zufällig fast trafen die feindlichen Soldaten aufeinander. Kaiser Franz Joseph schlief noch tief und fest, während die ersten Scharmützel ausbrachen. Niemand verstand, dass der große Kampf bereits begonnen hatte. Auch die Franzosen glaubten, sie seien auf eine Nachhut der Österreicher gestoßen. Sie vermuteten das Hauptheer jenseits des Mincio. Auch ihre Aufklärung war dürftig, doch bemühten sich die französischen Befehlshaber, ihre Soldaten zu schonen. Der größte Feind in diesen Tagen war die Hitze. Deshalb gaben sie den Soldaten um drei Uhr morgens den Befehl zum Abmarsch, da war es noch einigermaßen frisch. Es ließ sich leichter marschieren. Die Soldaten erhielten ein ausgiebiges Frühstück, damit sie bei Kräften waren, wenn die Sonne aufsteigen und das Land in eine glühende Hölle verwandeln würde. Kaiser Franz Joseph frühstückte erst kurz nach acht Uhr morgens. Vereinzelte Schüsse waren zu hören, doch hielt er das für belanglose Scharmützel. Erst als das Feuer intensiver wurde, ritt er aus, um die Lage zu erkunden. Erst gegen 11 Uhr vormittags wurde ihm klar, dass seine Armee auf der vollen Länge von zwanzig Kilometern in eine Schlacht verwickelt war.

Etwas mehr als 300.000 Soldaten standen sich gegenüber, 170.000 Österreicher und 150.000 Franzosen und Piemontesen. Es sollte zu einer der größten Schlachten der europäischen Geschichte kommen. Das Dorf Solferino bildete den Mittelpunkt der Front, die sich vom Gardasee über eine ganze Kette von Hügeln und Anhöhen bis in die Poebene zog. So überraschend der Kampf begonnen hatte, so schnell waren die feindlichen Armeen ineinander verkeilt wie wilde, bisshungrige Tiere. Das Töten begann im Morgengrauen, und es endete erst bei Sonnenuntergang mit dem Rückzug der Österreicher.

Der Urgroßvater des Autors nahm an der Schlacht von Solferino als einfacher österreichischer Soldat teil. In seinem Tagebuch schrieb er: "(...) da ist immer ein Kugelfeuer, dass man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte, denn es ist wirklich ein Kugelregen gewesen, dass es kaum möglich gewesen wäre, davon zu kommen, außer mit der Hilfe Gottes. Denn waren wir schon drei Stunden im Feuer und ohne Hoffnung zu eine Ablösung und wir hatten schon viele Kameraden blutig auf dem Feld verlassen müssen, denn wir könnten bald nimmer stehen vor Durst und Schwachheit. Aber wir trafen zum Glück eine Lacke, wo schon etliche Tote darin lagen, und das Wasser zwar rot vom Blut aber mit Freuden trank ein jeder, um mit Herzenslust sich von dem Durst zu erretten. Und ohne auszuhalten waren wir bis um zwei Uhr Nachmittags im Feuer. Wir blieben auf dem alten Platz, und der Feind ist retiriert, und da herrscht eine Stille. Um fünf Uhr abends da kam ein fürchterliches Sturmwetter, welches der Wind gegen uns trieb."

Die Hitze hatte sich über Tage aufgestaut, und plötzlich brach der Himmel über Solferino mit einem Tosen auf, dass es selbst den Soldaten den Atem raubte. Blitze zuckten am Himmel. Der Donner rollte über das Schlachtfeld. Windböen rissen an Bäumen und Sträuchern. Es hagelte dicke Hagelkörner, dann goss es. Der Wind heulte wie ein verwundetes Tier, das nach Rache sinnt. Die Soldaten unterbrachen ihre Kämpfe, sie duckten sich und suchten verzweifelt Schutz. Zitternd kauerten sie nieder, bekreuzigten sich und hofften, dass Gott sie verschonen würde. Kaum hatte das Gewitter sich ausgetobt, ging das Schlachten weiter, bis 10 Uhr in der Nacht.

Blut und Tränen

Den ganzen Tag über kamen zahllose Verletzte zum Dom von Castiglione. Wenige Meter entfernt wohnte Henry Dunant. Der Anblick, der sich ihm bot, war furchterregend. Die Verwundeten wurden auf Bahren, auf Karren, auf Eseln und Pferden, auf den Schultern eines Kameraden hierher transportiert. Die Stadt hallte wider von ihren Schreien. Spitäler, Kirchen, Schulen waren bis zum Rand gefüllt mit wimmernden, zuckenden Körpern. Viele Soldaten lagen auf den Bürgersteigen. Blut floss in den Rinnstein und mischte sich mit den Tränen der Sterbenden. Der Strom der Verzweiflung wollte nicht abreißen. Henry Dunant lief umher, packte überall mit an, und er protokollierte in seinen Erinnerungen mit entsetztem Blick das Grauen, das sich ihm bot.

Dunant schreibt vom Standpunkt eines Menschenfreundes aus. Der Gedanke, der sich durch Dunants Erinnerungen zieht, ist schlicht und revolutionär zugleich. Sobald ein Soldat verwundet ist, ist er kein Feind mehr, sondern ein Mensch, der alle Hilfe verdient. Diese Idee wurde am 24. Juni 1859 in den Straßen Castigliones unter dem Druck der Ereignisse geboren. Das Leid ist so überwältigend, dass die Unterschiede eingeebnet werden. Fünf Jahre später, am 22. August 1864, unterzeichnen 12 Nationen die ersten Paragrafen der Genfer Konvention. Darin sind zum ersten Mal die Rechte von Kriegsgefangenen festgelegt, gleichzeitig werden nationale Hilfskomitees unter dem Signum des Roten Kreuzes gegründet. Es ist der Beginn einer Organisation, die sich bald über den ganzen Globus ausbreiten wird.

Am Abend des 24. Juni 1859 stieg Napoleon III. vor den Mauern Cavrianas von seinem Pferd und ging zu Fuß durch das Tor auf den Hauptplatz und zur Villa Mirra. Er wollte mit seinem Spaziergang zeigen, dass er anders war als andere Monarchen, zugänglicher, volksnäher, freundlicher. Kaiser Franz Joseph war schon am Nachmittag Hals über Kopf abgezogen, und nun empfing Villa Mirra erneut einen illustren Gast. Napoleon III. schläft die kommende Nacht im selben Bett, in dem sein Gegner Kaiser Franz Joseph die Nacht vor der Schlacht verbracht hatte - das war eine Geste der Demütigung des Österreichers. Napoleon III. hatte Franz Joseph nicht nur die Lombardei abgenommen, er machte sich nun auch in seinem Bett breit. (Ulrich Ladurner/DER STANDARD, Printausgabe, 20./21. 6. 2009)