Die Philosophie vom Kopf der Theorie auf die bloßen Verständigungsfüße gestellt: Jürgen Habermas.

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Vieles lernt man erst schätzen, wenn es unwiederbringlich verloren ist. Wird es sich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit ebenso verhalten? Tatsache ist jedenfalls, dass das Internet - historisch betrachtet ein blutjunges Phänomen - einen Umbruch provoziert hat, dessen Folgen heute nicht einmal in Ansätzen zu ermessen sind. Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn selbst eine für unverwüstbar gehaltene Institution wie die New York Times vom Untergang bedroht ist? Steht die Zersetzung der bürgerlichen Öffentlichkeit bevor, oder aber wird das Internet, im Gegenteil, zu einer Verfeinerung und Qualitätssteigerung des öffentlichen Meinens und Entscheidens führen, wie dies etwa der Obama-Berater Cass Sunstein in seinem eben erschienenen, vor Informations-Optimismus strotzenden Buch Infotopia behauptet?

Vor dem diffusen Hintergrund zeitgenössischer Medienverhältnisse ist Strukturwandel der Öffentlichkeit, die 1962 erschienene Habilitationsschrift von Habermas, aktueller denn je. Anders als die "Strukturalisten" , die damals an den Unis in Mode kamen und nach den anthropologischen Konstanten in Sprache, menschlicher Psyche und Ökonomie suchten, die zusammen das Feld menschlicher Kommunikation umreißen, denkt Habermas geschichtlich: Bürgerliche Öffentlichkeit ist ein dem Wandel unterworfenes, historisches Phänomen, das sich im Zuge der Emanzipation des Bürgertums im 17. und 18. Jhd. erst in England, dann in Frankreich herausgebildet hat. In der durch das Zusammenwirken von Privatleuten hergestellten Öffentlichkeit werden Forderungen an die Politik gestellt, die der Privatmann als solcher nicht stellen konnte. Mit der Annahme einer Diskurssphäre eigenen Rechts, die vom staatlichen Handeln und von der Wirtschaftswelt geschieden ist, klingen im Strukturwandel die Hauptmotive des gesamten weiteren Werks von Habermas an: Herrschaftsfreier Diskurs, vernünftiges Kommunizieren usf.

Der "Wandel" im Titel des Buches bezieht sich auf das 19. Jhd.: Durch die Kommerzialisierung des Pressewesens - oder, um es in einem Begriffspaar von Habermas zu formulieren, durch das Eindringen des "Systems" in die "Lebenswelt" - ändern sich nicht nur die Beziehungen von Herausgeber/Verleger/Redaktion, auch die Legitimität der Öffentlichkeit nimmt Schaden. Das war im 19. Jhd., wohlgemerkt. Was ihr im 21. bevorsteht, ist eine offene Frage, deren gesellschaftliche Relevanz nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. (Christoph Winder, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 20./21.06.2009)

 

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