Wolfgang Sander erhofft sich in Zukunft mehr Zeit für die politische Bildung an Österreichs Schulen - am besten ein eigenständiges Fach.

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Österreich ist in Sachen politischer Bildung europaweit ein Nachzügler. Trotz allem dürfen hierzulande aber auch 16-Jährige wählen. Mit dem Department zur "Didaktik der politischen Bildung" wurde im Nachhinein eine Forschungseinheit geschaffen, die angehende LehrerInnen besser auf die Arbeit in den Klassen vorbereiten soll. "Besser spät, als nie", sagt Wolfgang Sander, der die Professur am Department innehält, gegenüber derStandard.at. Mit Teresa Eder sprach er über die Defizite in der Lehrer-Ausbildung und den Nachholbedarf im Vergleich zu Deutschland.

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derStandard.at: In Österreich sind in letzter Zeit einige SchülerInnen negativ aufgefallen, etwa in Ebensee oder bei einem Besuch in Ausschwitz. Ist die Verantwortung hier bei den Lehrern zu suchen und letztlich auch bei der fehlenden politischen Bildung?

Sander: Man muss vorsichtig sein mit Schuldzuweisungen. Das, was Menschen über Politik lernen und wie sie Politik verstehen, entsteht in einem sehr komplexen Prozess der politischen Sozialisation und beginnt im Grunde nach der Geburt. Die Familie spielt hierbei eine Rolle, das soziale Umfeld, die öffentliche Meinung aber auch die Politik, wie sie sich selbst darstellt. Natürlich ist ein Element in diesem ganzen Prozess auch das, was die Jugendlichen in der Schule über Politik lernen, denn die Schule ist der einzige Ort, wo alle Jugendlichen mit politischen Angeboten erreicht werden können. Insoweit kann man schon sagen: wenn sich solche Vorfälle häufen, ist das ein Indikator dafür, dass offensichtlich in der Auseinandersetzung mit politischen Themen in der Schule etwas fehlt oder etwas nicht stimmt.

derStandard.at: Was fehlt denn in Österreich?

Sander: Was tatsächlich fehlt, ist eine systematische, langfristig geplante Struktur politischer Bildung in der Schule. Es hängt einfach zu viel davon ab, was einzelne engagierte Lehrerinnen und Lehrer tun. Es ist zwar die politische Bildung im Fach Geschichte im letzten Jahr ausgebaut worden, aber die Auseinandersetzung konzentriert sich im Wesentlichen immer noch auf sehr knappe Zeiten, also das achte Schuljahr.

Politische Vorstellungen beginnen sich aber schon viel früher zu entwickeln. Man braucht eigentlich eine gewisse Kontinuität der politischen Bildung über mehrere Jahre. Und natürlich Lehrer, die fachlich sehr gut ausgebildet sind und das nicht nur als kleines Zusatzelement im Geschichts-Studium haben.

derStandard.at: Wann beginnt denn das Interesse für Politik bei Kindern und Jugendlichen zu entstehen?

Sander: Ein relativ bewusstes politisches Interesse, so dass man auch bereit ist, sich zu engagieren, tritt erst während der Pubertät ein. Wir wissen aber aus der Forschung sehr genau, dass schon Volksschulkinder sehr genaue Vorstellungen haben, wie Politik und Gesellschaft funktionieren. Die haben ein Bild davon, was Politik ist, auch wenn sie die abstrakten Begriffe dazu nicht kennen. Sie haben eine Vorstellung davon, was der Kanzler macht oder wie Entscheidungen getroffen werden.

Man muss diese Vorstellungen, die die Kinder mitbringen, erkennen und bearbeiten. Allerspätestens ab der 5. Schulstufe sollte deshalb der Unterricht in politischer Bildung beginnen. Man kann auch schon in der Volksschule in gewissem Umfang sich damit auseinandersetzen.

derStandard.at: Das Department „Didaktik der politischen Bildung" ist als Reaktion auf die Senkung des Wahlalters gegründet worden. Ist das nicht zu spät?

Sander: Das stimmt, aber so langfristig läuft Politik normalerweise nicht. Ich bin aber der Meinung: besser spät, als gar nicht.

derStandard.at: Sie sehen keine Gefahren darin, dass 16-Jährige wählen dürfen?

Sander: Von Gefahren zu sprechen, finde ich in diesem Zusammenhang übertrieben. Es ist ein europaweit interessantes Experiment, weil Österreich das erste Land ist, das auf nationaler Ebene 16-Jährige wählen lässt. Man wird sehen, was das für Konsequenzen hat und welche Erfahrungen es damit gibt. Die Hoffnung, die damit verbunden wurde, ist ja, dass sich Jugendliche stärker für Politik interessieren. Deshalb müssen aber die Jugendlichen auch in der Schule darauf vorbereitet werden. Früher konnte man noch sagen: Weil sie erst mit 18 wählen können, geht das die Schule nur bedingt etwas an. Jetzt hat die Schule hier eine stärkere Verantwortung.

derStandard.at: Ist es überhaupt möglich politische Bildung zu vermitteln, wenn im Elternhaus Desinteresse gegenüber Politik herrscht?

Sander: Es ist natürlich schwierig, aber nicht unmöglich. Ich glaube, dass die politische Bildung in keiner anderen Situation ist, als jedes andere Fach auch. Sie haben natürlich auch im Deutschunterricht ganz andere Bedingungen, wenn die Kinder aus Familien kommen, in denen viel gelesen wird und es ein literarisches Interesse gibt. Das gilt ebenso für die politische Bildung. Aber damit müssen die Schulen eben leben. Die Welt ist so heterogen, wie sie ist.

derStandard.at: Haben Sie persönlich eine Erklärung dafür, dass politische Bildung in Österreich im Vergleich zu Deutschland so wenig verankert ist?

Sander: In Deutschland ist nach 1945 die politische Bildung aufgrund der Anstöße der alliierten Besatzungsmächte massiv forciert worden. Da gab es eine Unterstützung, Initiativen und Förderungen. In Österreich mit seiner zugeschriebenen „Opferrolle" wurde dieses Thema von den Alliierten nicht beachtet. Es hat auch danach sehr lange gedauert, bis es in einem größeren Umfang diskutiert wurde.

derStandard.at: Welchen Parteien nützt denn die geringe politische Bildung am meisten?

Sander: Da muss man sehr vorsichtig sein. Man kann ja nicht sagen, dass bessere politische Bildung bestimmte politische Richtungen bevorzugt. Denn politische Bildung hat die Aufgabe, junge Menschen zu befähigen, sich ihre eigenen politischen Urteile und Vorstellungen zu entwickeln. Die können so different sein, wie das politische Spektrum different ist. Aber es gibt eine Einschränkung: Politische Bildung macht sicher weniger anfällig für populistische Politik. Denn der Populismus, egal mit welcher politischen Farbe er versehen ist, spielt natürlich immer damit, dass man leichte Lösungen für komplizierte Probleme verspricht. Je mehr man von Politik versteht, desto skeptischer wird man den leichten Lösungen gegenüber.

derStandard.at: Wie kann überprüft werden, was ein Lehrer politisch in der Klasse vermittelt?

Sander: Ich glaube nicht, dass es einer regelmäßigen Aufsichtskontrolle von außen bedarf. Die ersten Kontrolleure sind die Schülerinnen und Schüler selbst, die zweiten sind die Eltern, die dritten die Kollegen.

Es braucht natürlich eine professionelle Haltung der LehrerInnen, die darum bemüht sind, dass SchülerInnen ihre eigenen Urteile entwickeln. Meinungen haben die meisten zu einem politischen Thema schon vorher. Zu einem politischen Urteil wird eine Meinung aber erst dadurch, dass sie gut begründet ist, dass man systematisch argumentieren kann und auch Wissen dafür heranziehen kann. Ziel des Unterrichts ist es nicht die Meinung zu verändern, sondern die Schülerinnen und Schüler klüger zu machen. (Teresa Eder, derStandard.at, 19.06.2009)