Greg Bear: "Die Stadt am Ende der Zeit"
Broschiert, 895 Seiten, € 16,50, Heyne 2009.
Nach und nach hatten sie gemerkt, dass dieses Buch völlig anders war als die Geschichten, die die Alten dem Nachwuchs erzählten, denn die begannen stets in der Mitte, in einem gefährlichen Augenblick, und führten erst nach weiteren Abenteuern zum Anfang, der erklärte, was all diese Abenteuer zu bedeuten hatten. - Also ungefähr so wie in diesem Buch hier, auch wenn am Ende nicht alle dieser Erklärungen einleuchten und viele offene Fragen zurückbleiben werden. - US-Starautor Greg Bear, den viele wohl eher mit Romanen an der Schnittstelle von Science Fiction und Wissenschaftsthriller ("Blutmusik", "Das Darwin-Virus") assoziieren, war in der Vergangenheit der Fantasy nicht ganz abgeneigt. Und die lugt auch in "Die Stadt am Ende der Zeit" in verschiedenster Weise um die Ecke - dass das Buch paradoxerweise auch der Hard SF zugerechnet werden könnte, liegt daran, dass Bear sich darin mit spekulativ ausgerichteten physikalischen Konzepten wie der Retrokausalität oder der Viele-Welten-Theorie befasst. Was nicht nur den Plot des Romans bestimmt, sondern auch die Erzählstruktur.
Grob gesagt zerfällt das Buch - bis zu einer Verschmelzung ziemlich genau ab der Romanmitte - in zwei zeitliche Ebenen. Eine davon ist das Seattle der Gegenwart, die andere die fernste Zukunft. In 100 Billionen Jahren hat das Universum seine Expansionsphase längst hinter sich, nun breitet sich zwischen den Resten seiner extrem ausgedünnten Substanz etwas gefährliches Neues aus: Seit Äonen löst der Typhon - in etwa das Chaos an sich verkörpernd - das Raum-Zeit-Gefüge auf. Als letzte Insel der Existenz hat sich die Kalpa genannte Stadt auf der guten alten Erde gehalten; eine Stadt, in der Körperliches und Imaginäres verschmelzen (und die einem, nicht überraschend, auch nie so ganz plastisch vorstellbar wird). Von Realitätsgeneratoren geschützt, existieren hier Wesen wie die quasi-virtuellen Eidola, die die höchstmögliche Stufe der menschlichen Evolution erreicht haben, aber auch Hominiden wie Jebrassy und Tiadba, Nachgezüchtete der alten Art. Sie werden ihrer altertümlichen Fähigkeiten wegen gebraucht, dem bevorstehenden Ende von Raum und Zeit entgegen zu wirken - und auch, um einen Weg in eine mögliche weitere Überlebensinsel zu finden.
Im Vergleich zu diesem recht abstrakt wirkenden "Schauplatz" bietet die Gegenwartsebene aber nur vermeintlich leichtere Nachvollziehbarkeit - bei der Vorstellung der ProtagonistInnen gewinnt man zunächst nämlich den Eindruck, es fehlte einem das Vorwissen aus einem (nicht existierenden) Teil 1; zumindest dafür wird es später aber eine Erklärung geben. Jack, Ginny und Daniel haben, zunächst ohne voneinander zu wissen, die Fähigkeit, ihre Weltlinie zu verlassen und fast nach Belieben auf eine für sie günstigere Parallelwelt zu wechseln. Zwei von ihnen haben überdies geistige Aussetzer, während derer sie als Träumer in Verbindung mit Jebrassy und Tiadba in der Zukunft stehen. Sie stellen zunehmend merkwürdige Veränderungen in ihrem Umfeld fest (etwa das Auftauchen mythologischer Tiere) und sind auf der Flucht vor Glücksjägern wie Max Glaucous, die im Auftrag metaphysischer Wesen nach Schicksalswandlern wie ihnen suchen: per Annonce oder auch mit handgreiflicheren Mitteln. Sie treffen zusammen, als die Auflösung der Zukunft - Stichwort Retrokausalität - rückwirkend an die Gegenwart heranjagt und die unendlich vielen Weltlinien möglicher Entwicklungen sich der Null nähern. - Einmal kurz über den Kamm geschoren könnte man auch sagen, dass Bear ein Personenensemble à la Clive Barker durch ein Stephen-Baxter-Szenario vom Ende von Raum und Zeit hetzt und das auf eine Weise schildert, die ansatzweise an Hal Duncans "Vellum" erinnert. Das ist nicht der leichte Sushi-Gang zwischendurch.
Im öffentlichen Echo auf Bears Roman klingt Begeisterung ebenso an wie bittere Enttäuschung und Frust; immerhin ist er fast 900 Seiten lang und dabei durchaus anstrengend. Nichtlinearität und Aufsplitterung in einander überlappende Ebenen fordern aufmerksames Lesen - zudem spielt Bear mit verschiedenen Dichotomien wie der von Wahrnehmung und Realität oder der von Substanz und Information (das Motiv vom Buch als eigene Welt, die andere Welten nicht nur beschreibt, sondern auch beinflusst oder gar erschafft, zieht sich durch den ganzen Roman). Mythologische Verweise sind durchaus passend für ein Gebiet an der Grenze von Physik und Philosophie, in dem auch WissenschafterInnen mitunter auf Entsprechendes zurückgreifen. Zu altgriechischen Entitäten wie Mnemosyne oder Typhon gesellen sich dabei mit der Kalpa, Kali, den Devas oder Shiva freundliche Übernahmen aus dem Hinduismus, dessen Götterhimmel mit seiner Unzahl von Manifestationen und unterschiedlichen Teilaspekten von Meta-Persönlichkeiten wie maßgeschneidert für's Thema wirkt; immerhin haben hier auch die Avatare des virtuellen Zeitalters ihren Wortursprung. - Insgesamt eine recht gewagte Verquickung wissenschaftlicher und mythologischer Elemente also, die aber über weite Strecken aufgeht. Besser jedenfalls als die Schilderung des Chaos, das immerhin über einige hundert Seiten hinweg die Kulisse abgibt: Kein neues Problem, denkt man etwa an Jack Chalkers "Soul Rider"-Zyklus oder Stuart Gordons "One-Eye"/"Two-Eyes"/"Three-Eyes", die ebenfalls ein dem Kosmos entgegengesetztes (Nicht-)Ordnungsprinzip, das unsere Wahrnehmung zerstört, zu beschreiben versuchten. Entweder bleibt dies unbefriedigend (weil doch nicht so chaotisch) - oder das Geschehen ist beim Lesen nicht mehr nachvollziehbar. "Die Stadt am Ende der Zeit" spielt zwar auf einem deutlich höheren Komplexitätslevel als diese auf Action bedachten Romane, zeigt aber genau dieselben beiden Effekte - mal so, mal so.
Eine Schwäche ist die wenig plastische Zeichnung der Charaktere, die mit Ausnahme des zwielichtigen Max Glaucous allesamt blass bis austauschbar wirken - immerhin hat Bear einen Roman geschrieben, kein Essay über die Viele-Welten-Theorie. Die Personifizierung physikalischer Vorgänge wird gegen Ende hin (zu) weit getrieben - und Katzen im Gegensatz zu ihren Mit-Tieren übernatürliche Fähigkeiten anzudichten ist in der Regel ein untrügliches Anzeichen für verquaste Gedankengänge (außer natürlich in der Fantasy, wo das Übernatürliche Teil der Prämisse und damit bloß Normalität auf anderem Niveau ist). Am schwersten wiegen allerdings eindeutige Inkonsistenzen in der Beschreibung zentraler Vorgänge wie dem Weltlinienwechseln oder der Traumverbindung (mal scheinen die ProtagonistInnen die Körper mit ihren zukünftigen Pendants zu tauschen, mal führen sie als zwei Geister in einem Kopf Zwiegespräche) - es ist schwer den Überblick zu wahren, wenn sich einem immer wieder der Eindruck aufdrängt, Bear hätte ihn selbst nicht mehr so ganz gehabt.
Genial konstruiertes Werk oder die Strandung eines Autors in der Orientierungslosigkeit? Das muss jede(r) für sich selbst entscheiden - gewarnt sei nur vor allen veröffentlichten Meinungen über "Die Stadt am Ende der Zeit", die für sich reklamieren die richtige Interpretation parat zu halten. Es könnte sich dabei durchaus um einen Fall von Selbsttäuschung handeln.