Wohnschlange in Wien-Liesing:Die gekrümmte Form des 500 Meter langen Gebäudes folgt der Topografie und dem Verlauf des Liesingbachs. Freiflächen wird es nicht nur im Garten geben, sondern auch im sogenannten Luftgeschoß. Die Gemeinschaftsterrasse ist als nahegelegene Alternative zum gewohnten Luftschnappen gedacht.

Hier: Bauteil von Architekt Johannes Kaufmann.

Foto: Schreiner Kastler

Als Vorlage für den kurvenreichen Masterplan diente Wolf Prix ein Wohnhaus des brasilianischen Architekten Affonso Reidy.

Bild: Coop Himmelb(l)au

Das Luxuriöse an diesem Freiraum ist nicht der Preis, sondern der Bonus für die Bewohner.

Hopfen und Malz sind längst verloren. 1973 wurde in Wien-Liesing das letzte Bier gebraut, ab dann ging es mit der prominent platzierten Brauerei steil bergab. In den darauffolgenden Jahren diente die Anlage nur noch zu Abfüllzwecken. Letztendlich wurde der Betrieb eingestellt und ein Großteil des Ensembles abgetragen. Was 1839 mit dem bierigen Oberliesinger Felsenkeller-Bräu den Anfang genommen hatte, war nun ein für alle Mal Geschichte.

Städtische Areale dieser Größenordung und mit einer entsprechenden öffentlichen Verkehrsanbindung sind rar. Es dauerte also nicht lang, bis die ersten Ideen für eine Nachnutzung des Geländes zu gären begannen. Im September 2000 wurde ein geladenes Gutachterverfahren ausgeschrieben, wenige Monate später stand der Sieger fest: Das Wiener Büro Coop Himmelb(l)au konnte sich mit seiner urbanen Schlange, die sich am Liesingbach entlangwindet, gegen die restlichen acht Architekturbüros durchsetzen.

"Ich mag diese Schlange" , sagt Architekt Wolf Prix auf Anfrage des Standard. "Erstens ist sie eine sinnvolle Antwort auf die Form und Topografie des Grundstücks, und zweitens muss ich dabei an die berühmte Schlange in Rio de Janeiro denken, an diesen Wohnbau von Affonso Reidy aus dem Jahr 1950. Ein faszinierendes Bauwerk. Wir haben darauf stark Bezug genommen."

Schlange mit 600 Wohnungen

Aufgrund der enormen Projektgröße – rund 600 Wohnungen werden in einem Zug aus dem Erdboden gestampft – musste das Gelände nochmals parzelliert und einem öffentlichen Bauträgerwettbewerb unterzogen werden. Die nunmehrigen Planer sind Johannes Kaufmann, Delugan Meissl Associated Architects sowie Coop Himmelb(l)au, die nun selbst ein Stück ihrer Schlangenvision ausarbeiten können.

Auffälligstes Merkmal, das sich durch alle drei Bauteile zieht, ist das sogenannte Luftgeschoß im vierten Stock. Auf einer Länge von knapp 500 Metern wird die gesamte Wohnbau-Schlange in der Mitte horizontal aufgeschlitzt und wie ein Filet hochgehoben. Die Idee hinter dieser gestalterischen Großtat: Schaffung von Durchblicken und zusätzlichen Freiräumen sowie Verkürzung der Wege zwischen Wohnung und frischer Luft.

Noch bevor die Frage nach der Finanzierung dieses luxuriösen Nichts im vierten Stock gestellt ist, wird man vom Masterplaner jäh unterbrochen. "Die Vermutung, dass alles Ungewöhnliche teuer sein muss, ist falsch und kleingeistig" , erklärt Prix. Die Sache sei einfacher, als viele glauben. Man müsse lediglich Prioritäten setzen und klar definieren, was einem wichtig ist und was nicht. "Das größte Problem der zeitgenössischen Architektur ist, dass ihr permanent unterstellt wird, teurer zu sein. Das ist ein Killerargument. Doch in Wahrheit ist intelligente Architektur nicht etwa ein finanzielles, sondern schlichtweg ein gesellschaftspolitisches Problem."

Und wie sehen das die anderen Architekten? "Was die Baukosten betrifft, haben wir das Glück, mit Pittel+Brausewetter eine sehr engagierte und ambitionierte Baufirma gefunden zu haben, mit der wir uns gut einigen konnten" , erklärt Daniel Bammer, Projektleiter bei Architekt Johannes Kaufmann. "Aber natürlich ist man bei einem solchen Projekt nicht davor gefeit, einige Überarbeitungen und Volumenreduktionen vorzunehmen."

Durch die aufwändigere Konstruktion und durch den Mehraufwand an gedämmten Außenwandwandflächen verursache das Luftgeschoß gewisse Mehrkosten, die an anderer Stelle wieder eingespart werden müssten, so Bammer. So etwa schrumpften Kellergeschoß und Garage gegenüber dem ursprünglichen Entwurf auf das vorgeschriebene Minimum zurück.

Gemeinschaft auf dem Dach

Auch Bernd Heger vom Büro Delugan Meissl Associated Architects bestätigt: "Man muss sich entscheiden. Es gibt sicherlich Wohnbauten, wo in den Innenräumen etwas hochwertigere Materialien zur Anwendung kommen. Und womöglich gibt es auch Projekte mit etwas besseren Gemeinschaftsräumen." In diesem Projekt, so Heger, habe man sich eben auf Gemeinschaftsflächen im Freien fokussiert.

Durch die Überdachung wird es möglich sein, auch bei weniger guter Witterung draußen zu sitzen und dem Müßiggang zu frönen. Wege, Sitzgelegenheiten und Kinderspielplätze werden den angehobenen Garten säumen. Einziger Nachteil: Nach versteckspieltauglichen Büschen und duftenden Blumenbeeten wird man vergeblich Ausschau halten. Eine intensive Begrünung der Dachflächen wäre aufgrund der Verschattung und der nötigen künstlichen Bewässerung zu teuer gewesen.

Bleibt zu klären, ob das Dach in luftiger Höhe durch die Bewohnerinnen und Bewohner auch angenommen werden wird. Anhand einiger bereits realisierter Wohnbauprojekte in Wien zeigt sich nämlich, dass das meistens nicht der Fall ist. "Ich bin mir dessen bewusst, dass die Leute so ein Angebot heutzutage noch viel zu wenig wahrnehmen" , sagt Wolf Prix. "Der Geist des Wieners zeichnet sich durch Fernsehsucht und Rückzugsmentalität unter der Woche und durch Ausflugsflucht am Wochenende aus." Die Hoffnung will der Architekt dennoch nicht aufgeben: "Irgendwann wird der Punkt erreicht sein, wo die Energie- und Mobilitätskosten zu teuer sein werden. Spätestens dann wird man froh darüber sein, dass man sich konsumationslos ins Gartengeschoß zurückziehen kann."

Insofern, beteuert Prix, sei das, was die anderen heute als teuren Luxus bezeichnen, nichts anderes als die rechtzeitige Antwort auf die Wirtschaftskrise. (Wojciech Czaja, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10.6.2009)