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APA-FOTO: GEORG HOCHMUTH

War's das mit links? - Das "A-Team" am Tag nach der Wahl, unweit der SPÖ-Zentrale in der Wiener Löwelstraße.

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Man fragt sich: War's das mit links? Seitdem die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien vor rund hundert Jahren überall in Europa das allgemeine, gleiche Wahlrecht durchgesetzt haben, sah es selten so finster für sie aus wie bei den EU-Wahlen vom vergangenen Sonntag. Fast überall gab es für sie ein Monster-Minus - in Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Italien, in den Niederlanden. Rechtspopulisten und Protestparteien schlossen zu den Sozialdemokratien auf, da und dort überholten sie sie sogar. Kaum wo übersprangen die Mitte-links-Parteien die 20-Prozent-Marke wesentlich. Und was auch in dieses Bild gehört: Die "linkeren" Linksparteien, wie etwa die deutsche "Linke", sind selten die Nutznießer des Niedergangs.

Vor knapp zehn Jahren sah es noch anders aus: Es herrschte Dot.com-Boom, Wirtschaftsanalytiker glaubten, es wäre endlich die Formel für die krisenfreie Ökonomie entdeckt, und Europa war fest in der Hand "modernisierter" Sozialdemokraten. Von den damals 15 EU-Staaten waren elf sozialdemokratisch regiert, mit Blair, Schröder, Jospin, Prodi, Persson stellten die Mitte-links-Parteien in Europa die politischen Zentralfiguren, die auch habituell so etwas wie Leittypen waren. Aber das ist lange vorbei. Warum nun so ein Absturz?

Dafür gibt es im Wesentlichen drei Gründe. Zum Ersten ist das Folge gerade der "Modernisierung", der die sozialdemokratischen Parteien in den vergangenen zehn Jahren unterzogen wurden. Flexibilisierung der Arbeitswelt, das Loblied auf die Effizienz freier Märkte und auf den schlanken Staat haben sich auch die Sozialdemokraten antrainiert. Ihr Führungspersonal versuchte "modern" zu wirken, und das war gestisch oft nicht mehr vom Habitus der globalen "Winner-Classes" zu unterscheiden. Weil die Manager Leitfiguren waren, wollten sozialdemokratische Politiker gerne "Manager der Politik" sein. Und das war nicht nur Gestik: Sozialdemokratien "verschlankten" den Sozialstaat oder herrschten die Loser mit ihren Parolen vom "Fordern und fördern" an. In ihrer Außendarstellung setzten sie lieber auf Werbeagenturen als auf den Aktivismus ihrer altväterlichen Parteigänger.

Die Wirtschaftskrise verschlägt deshalb gerade den Sozialdemokraten die Sprache. Plötzlich scheint alles, was sie in den vergangenen zehn Jahren verzapften, als hohl, aber sie können deshalb ja auch nicht zum Jargon der Vor-Modernisierungs-Sozialdemokratie zurückkehren. In der Praxis versuchen sie es ein bisschen, was sie erst recht unglaubwürdig macht. Konzise Idee haben sie ohnehin keine. Und das spüren die Leute.

Natürlich gibt es in jedem Fall lokale Spezifika: Nach mehr als zwölf Jahren Labour-Regierung ist die britische Sozialdemokratie innerlich aufgezehrt, der tapsige Premier Gordon Brown tut das seinige noch dazu. Die französischen Sozialisten sind ein chronisch zerstrittener Haufen, Österreichs Sozialdemokraten ein Trauerspiel. Aber diese Spezialfälle fügen sich in einen allgemeineren strukturellen Zusammenhang.

Es gibt, dies ist die zweite Spur, einen Zusammenhang zwischen der Wirtschaftskrise und dem Niedergang der Sozialdemokratie. Das Kernmilieu der klassischen sozialdemokratischen Stammwähler - ohnehin ein schrumpfendes Biotop - wählt diese Partei traditionell, weil es sich von ihr etwas erhofft, und zwar oft weniger im Allgemeinen als sehr persönlich: sicherere Jobs, höhere Löhne, ein belastbares soziales Netz für den Notfall. Im Moment haben diese potenziellen Wähler aber einfach nicht das Gefühl, dass die Sozialdemokraten irgendetwas für sie tun können. Der Wähler weiß in aller Regel: Verliert er seinen Job, sind die Sozialdemokraten zwar nicht daran schuld, sie werden daran aber auch nichts ändern, sofern er nicht bei einer großen Autofirma arbeitet. Er kann an einer Stimmabgabe für die Sozialdemokratie daher kaum etwas Nützliches erkennen.

Er wendet sich deshalb möglicherweise nicht einmal empört oder sonst wie erschüttert von der Partei ab. Er geht einfach nicht wählen. Bei Europawahlen, deren unmittelbarer Sinn sich nicht so leicht erschließt, erst recht. Man soll deshalb auch nicht unbedingt in Superlative verfallen. Europawahlen sind Europawahlen.

Das dritte Element zur Erklärung dieses Wahlausgangs ist die Legitimationskrise des europäischen Einigungsprozesses als solches. Es hat sich offenbar in weiten Kreisen durchgesetzt, dass Europa ein Elitenprojekt sei. Die Mahnungen sozialdemokratischer Politiker, die EU müsse "sozialer" werden, bestärkt nur die Gewissheit, dass die Union heute eben "unsozial" ist. Diese Anti-Europa-Stimmung können die Sozialdemokraten aber unmöglich in Wählerstimmen verwandeln. Während jene, die sich wesentlich als proeuropäisch sehen, für liberale Christdemokraten und zunehmend für die Grünen stimmen, wird der Sozialprotest von Anti-Eliten-Parteien eingesackt, die oft, aber nicht immer sehr weit rechts stehen. Die Sozialdemokraten lavieren dazwischen und werden aufgerieben.

Bei allen lokalen Eigenheiten gibt es heute einen pathologischen "Internationalismus", etwas, was die zeitgenössischen Sozialdemokraten in Europa eint: Man weiß nicht, wofür sie stehen, weil sie nicht wissen, wofür sie stehen sollen. Die neoliberal gefärbte Modernisierungsideologie funktioniert nicht mehr, eine andere Idee haben sie aber nicht zur Hand. Sie sind unfähig, eine neue zu entwickeln, auch weil sie intellektuell ausgezehrt sind. Nicht zuletzt personell: Als Apparatpartei ist ihre Personalrekrutierung seit sehr langer Zeit schon eine Negativauslese. Noch gibt es zwanzig Prozent, die sie trotzdem wählen. Wären sie auf den Anteil derer angewiesen, die sie nicht trotz ihrer Politik, sondern wegen ihrer Politik wählen, die Fünf-Prozent-Marke wäre wohl eine ernste Hürde. (Robert Misik, DER STANDARD-Printausgabe, 9.6.2009)