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Bis jetzt bestimmen 27 höchst unterschiedliche nationale Wahlkampagnen die EU-Wahl. Bald könnten aber grenz überschreitende Themen diskutiert werden.

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Das EU-Parlament wird sich mittelfristig zu einer Art US-Kongress statt zu einem klassischen europäischen Parlament entwickeln, sagte Chefanalytiker Antonio Missiroli im Gespräch mit Michael Moravec.

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STANDARD: Vor welchen Herausforderungen steht das neugewählte Europäische Parlament?

Missiroli: Das hängt natürlich in großem Maße davon ab, ob der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt oder nicht. Die gesamte institutionelle Architektur der EU wird sich verändern, wenn es im Herbst Zustimmung zum Vertrag gibt. Dann wird die Arbeit für die Parlamentarier spannender, aber auch sehr viel anspruchsvoller. Die große Her_ausforderung wird dann die Abstimmung der einzelnen Institutionen sein. Das Parlament wird bei 90 Prozent aller Gesetzesvorhaben mitbestimmen und bekommt damit eine entscheidende Rolle. Das Vorurteil, dass ungewählte, anonyme Bürokraten die Entscheidungen in Brüssel treffen, gehört dann endgültig der Vergangenheit an, denn die Entscheidungen treffen dann gewählte Mandatare, die zumeist das letzte Wort bei der Entstehung neuer Gesetze haben werden. Das wird die Art, wie die EU von außen wahrgenommen wird, verändern.

STANDARD: Welche Bereiche der Politik werden von der neuen Mitbestimmung des Parlaments besonders betroffen sein?

Missiroli: Die Bandbreite der Aufgaben wird enorm steigen, und zwar in allen Bereichen, den gemeinsamen Markt ausgenommen, wo ja jetzt schon weitgehende Mitbestimmung festgeschrieben ist. Und bereits in den abgelaufenen fünf Jahren hat sich die Mitbestimmung auf den Gebieten Justiz und Innere Sicherheit deutlich ausgeweitet. Das Parlament hat hier sein besonderes Interesse für den Schutz der Privatsphäre und die individuellen Rechte des Einzelnen erkennen lassen, aber auch den Kampf gegen den Terror und allgemeine Sicherheitsfragen intensiv verfolgt. Es wird interessant sein, zu beobachten, wie sich hier die Dinge weiter entwickeln. Ein Bereich, in dem das Parlament seine Macht beträchtlich ausweiten wird, ist Energie, ein Schlüsselthema für die kommenden Jahre. Und dann wird es eine sehr sensible Diskussion um die Finanzen der EU und ihre Kontrolle geben. Die Diskussion wird zuerst von der EU-Kommission geführt werden, die dann die Mitgliedstaaten einbezieht, aber schließlich muss das Parlament zustimmen. Und das ist ein Hebel, mit dem die Politik der gesamten EU beeinflusst werden kann: Wie viel Geld gibt es für welche Projekte, da kann stark gewichtet, umgeschichtet und korrigiert werden.

STANDARD: Wie wird sich ein erstarktes Parlament auf das Zusammenspiel mit den beiden anderen Institutionen, dem Rat und der Kommission, auswirken?

Missiroli: Ich glaube, dass sich das EU-Parlament eher in Richtung US-Kongress entwickeln wird und nicht zu einem deutschen Bundestag. Also eher eine die anderen _Institutionen kontrollierende und mitbestimmende Einrichtung, und nicht ein klassisches europäisches Parlament, das eine Regierung ernennt, Misstrauensvoten einbringt usw. Ein Parlament also, dass mit den Exekutivorganen, sei es Rat oder Kommission, über Gesetzesvorhaben verhandelt.

STANDARD: Das Parlament bekommt mehr Macht, aber immer weniger Menschen gehen zur Wahl oder interessieren sich für seine Arbeit, EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso nennt das „paradox". Wie kann man das Interesse der Wähler an der EU steigern?

Missiroli: Eine Möglichkeit ist, die Wahlen konkurrenzbetonter zugestalten. Also zum Beispiel den Menschen die Möglichkeit zu geben, den Präsidenten der EU-Kommission zu wählen. Das ist heuer leider noch nicht der Fall gewesen, aber in fünf Jahren sollte klarer zu sehen sein: Ein deutlich gestärktes Parlament, das über Dinge entscheidet, welche die Menschen im Alltag betreffen, dadurch entstehen auch grenzüberschreitende Diskussionen und die Möglichkeit zu grenzüberschreitenden Kampagnen.

STANDARD: Hätten nicht nur Kandidaten aus den großen Mitgliedsländern reale Chancen, wenn der Kommissionspräsident von den Bürgern gewählt wird?

Missiroli: Das muss nicht unbedingt der Fall sein. Jede politische Bewegung könnte ihre eigenen Kandidaten präsentieren, und es muss ja nicht nur der Kommissionspräsident sein, sondern es gibt ja auch andere Jobs wie den außenpolitischen Hohen Vertreter oder Vizepräsidenten der Kommission. Und die Kandidaten müssten dann EU-weite Kampagnen führen, was zum Beispiel auch Mehrsprachigkeit voraussetzt. Und dazu kommt, dass die Menschen aus kleineren Staaten zwangsweise zumeist polyglotter sind als Bürger aus den großen Staaten. Ich bin sicher, dass auch die kleinen Staaten gute Chancen auf die Spitzenjobs hätten, wenn direkt gewählt würde. (DER STANDARD, Printausgabe, 8.6.2009, Michael Moravec)