Cui bono? Selten korrelieren die prinzipielle Fragestellung nach dem Sinn und die hintergründige Frage nach Sinnhaftigkeit von Fotografie so sehr wie im Fall des Buches "Noch mal leben vor dem Tod". Privatfotografie ist doch oft ein Festhalten des Augenblicks, der Zeit, der Imagination einer Person in einer glücklichen, einer wichtigen Lebensphase, einem perfekten Moment. Stillstand der Erinnerung. Im Fall dieses Buches ist Fotografie Zeuge des vergänglichen Lebens im Angesicht unheilbarer Krankheit. Der Fotograf fungiert als Chronist eines angekündigten Todes.

Der Fotograf Walter Schels und die Autorin Beate Lakotta begleiteten Menschen im Bewusstsein des Sterbens, im Bewusstsein des aus unheilbarer Krankheit resultierenden Todes. Die kargen Schwarz-Weiß-Porträts konfrontieren mit Krankheit und Tod, evozieren fragmentarische Betrachtungen über elementare Fragestellungen, unter Berücksichtigung transzendentaler, religiöser Aspekte über lebenswertes Dasein, über Glaube, Liebe, Hoffnung, Versäumnisse, Schmerzen und Ängste, erzählen Geschichten vom Abschiednehmen, vom Lebensende. Kulturhistorisch in der Tradition von Totenmasken und Mumifizierungen, wie sie beispielsweise aus Sizilien und Mexiko bekannt sind, stillen die Bilder das Bedürfnis nach Erinnerung, nach Festhalten des menschlichen Antlitzes, des Abbildes eines Verstorbenen. Vis-à-vis präsentiert sind jeweils Porträts der Menschen knapp vor und nach dem Exitus.

Die Totenbilder vermitteln kontemplative Ruhe, Stille, legen oft Zeugnis ab von Erlösung, von Schmerz- und Angstfreiheit. Befremdend, irritierend im Sinne der Pietät und in ihrem Schmerz wirken die publizierten Fotos entschlafener Kinder. Das Recht auf Selbstbestimmung ist hier nicht aufseiten der Toten, sondern auf der ihrer Verwandten. Begleitet werden die einfühlsamen Fotografien von zahlreichen Gesprächen mit den Betroffenen und deren nächsten Angehörigen. Trauer und Demut - und vor allem die Frage nach dem Sinn des Lebens evoziert das Betrachten des Buches über ein Thema, das in unserer schnelllebigen, von Bilderflut und Oberflächlichkeit geprägten Zeit meist tabuisiert ist. Conclusio: Carpe diem! (Gregor Auenhammer, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 06./07.06.2009)