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"Tankman vor vier Panzern": Das berühmte Bild des AP-Fotografen Jeff Widener ging 1989 um die Welt.

Foto: AP/Widener

Peking – Es sieht aus wie ein harmlos-komisches Spiel: "Links ein Schritt, rechts ein Schritt. Und ein Panzer tanzt sie mit." Aber der kanadischen Journalistin Jan Wong ist nicht zum Lachen zumute. Ihr stockt vor Entsetzen der Atem, als sie vom Balkon des Peking-Hotels das absurde Schauspiel auf der Straße unter ihr mitverfolgt.

500 Meter entfernt auf dem breiten Changan-Boulevard steht ein Mann allein in weißem Hemd mit dem Rücken zu ihr. Er hält Einkaufstaschen. Ein Panzer braust auf ihn zu. Dahinter folgt die Kolonne weiterer Panzer. Gleich wird er sterben, habe sie in dem Moment gedacht. Doch das Leitfahrzeug weicht aus. Der Mann springt zur Seite, versperrt wieder die Weiterfahrt. Das Ungetüm schwenkt nach rechts. Erneut blockiert es der Mann. Mehrfach geht das hin und her. Dann stellt der Panzer seinen Motor ab, erzählt Jan Wong 2006 dem Dokumentarfilmer Antony Thomas, der einen Film über den Vorfall unter dem Titel The Tankman drehte. Auf dem Changan-Boulevard des Ewigen Friedens "war es plötzlich ganz still" .

Einer gegen 17 Tanks

Es ist mittags, schwülheiß, an diesem Montag, dem 5. Juni 1989, als ein einzelner Mann 17 Panzer zum Stehen bringt, knapp 40 Stunden, nachdem sich die Armee den Weg durch Pekings Innenstadt zum Tiananmen-Platz freigeschossen hat. Fünf, sechs Minuten hält der Mann die Panzer in Schach, klettert kurz auf den ersten und ruft der Besatzung etwas zu.

Später behaupten Journalisten, dass Passanten, die beidseits der Changan-Straße zuschauten, ihn hören konnten: "Warum seid ihr in meiner Stadt? Ihr habt nur Elend angerichtet" , soll er geschrien haben. Er bekam keine Antwort, sei herabgeklettert, habe aber den Panzer weiter blockiert. In dem Augenblick sprinteten ein paar Männer aus dem Pulk der Zuschauer los. Sie hätten ihn im Laufschritt auf die andere Seite geschleppt.

Auf dem Balkon im achten Stock stehen Charlie Cole, der als Fotoreporter für die US-Zeitschrift Newsweek, und Stuart Franklin, der fürs Time Magazine arbeitet. Cole hält die Männer für Zivilpolizisten. Aber Jan Wong, die viele Jahre in China studiert hat, widerspricht. So führe die Polizei niemanden ab.

Fotos von der Szene geben ihr recht. Drei Personen haben sich bei dem unerkannten Helden untergehakt, rennen mit ihm im Schlepptau auf die andere Straßenseite. So bewegen sich beherzte Zuschauer, wenn sie jemanden in Sicherheit bringen wollen. Wenn ihn die Staatssicherheit wirklich bekommen hätte, wäre der Panzermann längst von einem Militärtribunal verurteilt und erschossen worden. Wahrscheinlicher ist, dass er in der Menge untertauchte und heute noch irgendwo unerkannt in China lebt.

Die beiden Profis Cole und Franklin knipsen ihre Filme in raschem Tempo ab. Vom Balkon aus können sie bis zur entfernten Schneise sehen, die zum Tiananmen-Platz führt, in dessen Tiefe Hunderte von Panzern parken. Mehr als ein Kilometer ist es bis dahin. Die Armee hat 300 Meter vor dem Platz auf der Changan eine doppelte Sperrmarkierung gezogen. Sie schießt scharf auf jeden, der dort eindringt. Viele Pekinger wissen noch gar nicht, dass das Todesstreifen sind.

Auf hunderten Titelseiten

Der Mann aber steht weiter unterhalb der Prachtstraße. Fünf ausländische Fotografen, darunter BBC und CNN, filmen ihn von ihren Balkons des Peking-Hotels. Keiner kann das Gesicht des Mannes von vorne sehen. Auch AP-Fotograf Jeff Widener, der vom Balkon aus im sechsten Stock seine Bilder schießt, kann sie heil zum Pekinger AP-Büro bringen. Sein Foto Tankman vor vier Panzern wird tags darauf von hunderten Zeitungen weltweit gedruckt.

"Unbekannter Rebell" nennt Time zehn Jahre später in ihrer Hommage den Mann, den es unter ihre "100 bedeutendsten Personen des 20. Jahrhunderts" wählt. Doch sein Schicksal bleibt bis heute ein Rätsel. Niemand weiß, wo der damals angeblich 19-Jährige geblieben ist. Auch Pekings Führer scheinen passen zu müssen. Chinas damaliger Parteichef Jiang Zemin sagt 1990 zu einem ausländischen Besucher, dass der Mann nie verhaftet worden sei. Jiang spricht dann noch einmal über den "Panzermann" . Der US-Journalistin Barbara Walters sagt er am 2. Mai 1990 in radebrechendem Englisch, dass er nicht getötet worden sei: "I think never killed."

Dort, wo der Panzermann einst in Lebensgröße auf der Straße stand, braust heute der Verkehr über den auf zwölf Spuren verbreiterten Boulevard. Das Peking-Hotel rückte mit neuen Anbauten bis zur Kreuzung vor. Gegenüber haben die Sicherheitsbehörden die gesamte Straßenseite in Beschlag genommen – eine klotzige Manifestation, wer in China das Sagen hat.

In Peking erinnert sich niemand an den Panzermann. Außerhalb Chinas ist das anders, ob in Brisbane, in Singapur, Washington, in London, Erfurt oder Leipzig. Die australische Choreografin Deborah Kelly hat nach den Bodyschwenks des unbekannten Rebellen beschwingte Schritte entwickelt: gegen das Vergessen. Während in China bleiernes Schweigen herrscht, tanzen kleine Gruppen in zehn Städten den "Tankman-Tango" des Tiananmen: links ein Schritt, rechts ein Schritt. Und ein Panzer tanzt sie mit. (erl/DER STANDARD, Printausgabe, 3.6.2009)