Teenager mit einem Faible für die Vergangenheit: Kitty und Daisy von Kitty, Daisy & Lewis bei ihrem mitreißenden Auftritt beim Primavera-Festival im Hafen von Barcelona.

Foto: Primavera / Dani Canto

Beim ersten Lokalaugenschein hielt man es noch nicht für möglich. Auf der ATP-Stage, einer von fünf großen Bühnen des Primavera Sound '09 im Hafen von Barcelona, zerlegte gerade die US-Band Magic Markers Noiserock in kleine Teile und montierte die bockigen Klötze neu. Musiklego. Große Steine für kleine Hände. Nett, aber egal.

Die Bühne war rund zweieinhalb Meter hoch. Nein, unmöglich. Hier würde er nicht runterspringen. Immerhin ist er 49 Jahre alt. Drei Stunden später betrat das US-amerikanische Quartett The Jesus Lizard selbige Bühne. Während sich der Kessel davor rasch mit vier-, fünftausend Menschen füllte und die Band in den ersten Song tobte, nahm er Ziel, Anlauf - und köpfelte in die Menge. Von wegen zu hoch!

Er heißt David Yow und ist Sänger und Full-Contact-Mann dieser Formation, die nach einer Eidechse benannt ist, die tatsächlich auf ihren Hinterbeinen übers Wasser laufen kann. Ein rares Talent in einer reichen Fauna und eine hübsche Metapher für diese fantastische Band, deren Sänger ebenfalls nicht untergeht, sondern von Publikumshänden getragen wieder Richtung Bühne retourniert wird.

The Jesus Lizard ist eine jener großen, einflussreichen oder zumindest legendären Bands, die das umfangreiche Programm des spanischen Qualitätsfestivals veredeln. Dieses setzt sich aus angesagten neuen Acts und solchen zusammen, deren Arbeit oft erst von der Geschichte legitimiert wurden. Das zieht pro Tag gut 20.000 Menschen an. The Jesus Lizard, gegründet 1987, war eine der besten Bands ihrer Zeit. Nach ihrem Split 1999 reformierte man sich nun, um in den USA und Europa eine Handvoll Konzerte zu spielen. Die auf den aktuellen T-Shirts abgedruckten Geldsäcke verdeutlichen, worum es dabei auch geht.

Doch während der knappen Stunde, in der Yow, Duane Denison, David Wm. Sims und Mac McNeilly durch Songs wie Puss, Fly On The Wall oder Glamorous wüten, sind die Motive egal. Dabeisein ist alles. Yow, schon nach dem ersten Köpfler nur noch in Jeans und Cowboystiefel, gibt immer noch überzeugend den genialen Wahnsinnigen. Zu beinhartem, knochentrockenem und mit chirurgischer Präzision gespieltem Noiserock unterhält er nicht nur ein restlos enthusiasmiertes Publikum, er hat selbst merkbar Spaß an seinem Tun. Wie sagte er am Ende zum spanischen Publikum so schön: "Merci beaucoup."

Primavera Sound, 2001 als Festival für elektronische Musik gegründet, ist heute so etwas wie der mehrtägige Himmel auf Erden für Alternative-Music-Fans. Am Meer gelegen, wird auf mehreren Bühnen, die allesamt innerhalb von zehn Gehminuten bequem zu erreichen sind, ein Programm gespielt, das fast vier DIN-A3-Seiten füllt - knapp 90 Bands. Wer nur österreichische Großfestivals kennt - hier gibt es nichts, was von schlechter Musik ablenken muss, weil es (fast) keine schlechte Musik gibt.

Niemand will einen tätowieren, es gibt kein elektronisches Bullenreiten, kein Bungee-Jumping und - das Schönste daran - auch kein derartiges Publikum. Alle Verkaufsstände sind musikbezogen, es präsentieren sich Labels, Vertriebe, Merchandiser. Es gibt keine Rempeleien, keine besoffenen Teenager, ja, sogar das Security-Personal ist ausgesucht höflich.

Neben den Open-Air-Bühnen finden im Forum Auditori, einer bestuhlten, dem Gelände vorgelagerten Veranstaltungshalle, ausgesuchte Shows statt. Etwa jene von Joe Henry, dessen musikalisches OEuvre weniger bekannt ist als der Umstand, dass er der Schwager von Madonna und als Produzent (etwa von Solomon Burkes Don't Give Up On Me) ein Qualitätsgarant ist. Im Trio, mit Stehbass, Schlagzeug und selbst zwischen Klavier und Gitarre wechselnd, erfüllte er mit seinem verwischten, leicht angejazztem Songwriting alle Erwartungen - auch wenn man ihn sich an einen etwas intimeren Ort gewünscht hätte. Wenig später ging an derselben Stelle einer der Headliner des Festivals zum zweiten Mal in Stellung: My Bloody Valentine, eine 1987 gegründete irische Band, die sich mit nur zwei Alben - Isn't Anything und Loveless - verewigt hat. Seit dem Vorjahr ist der Vierer um Kevin Shields reformiert. Diese Götter lärmsüchtiger Mauerblümchen und deswegen Shoegazer genannt, können es lautstärkemäßig mit Motörhead aufnehmen. Kein Schmäh.

Heiliger Bimbam!

Hinter fast schon unerträglich lauten Gitarrenwänden, in denen verlorene Melodien eingewoben sind, wirkt die Band, als würde sie sich verstecken. Alle Hits, die nie welche waren, werden gespielt. Allein, die Penetranz der Lautstärke verleidet einem streckenweise den Genuss.

Fast zahm erschienen da die US-Doom-Götter Sunn O))) bei ihrer Aufführung von The Grimerobe Demos, an dessen Ende sie mit erhobenen Händen vor einer Verstärkerfestung stehen, die Hände gespenstisch aus ihren Mönchskutten gen Himmel gerichtet: heiliger Bimbam! Der Rest war Trockeneisnebel und dunkle Glückseligkeit. Was war noch? Ekstatische Auftritte der Crystal Antlers und Yo La Tengo. Charmantes von den Vaselines, Überzeugendes von Spectrum, Souveränes von Neil Young, Poppiges von den Throwing Muses, ja sogar Jarvis Cocker kam mit seinem bescheidenen neuen Studioalbum live durch.

Die (Live-)Entdeckung aber waren Kitty, Daisy & Lewis. Eine Geschwister-Formation aus England, die eine selbstdefinierte Schnittmenge aus Louis Prima und Muddy Waters bespielt. Mit Stehbass, Banjo, Quetsche, Gitarre, in 1940er-Jahre-Klamotten und einem Gesang, als hätten die Andrew Sisters einen über den Durst getrunken, wurde harter Blues mit Hawaii-Gitarren milde gestimmt, ein Rocksteady-Horn eingebaut oder einem alten Hohner-Piano der Irrsinn des frühen Jerry Lee Lewis entlockt: eine Offenbarung! (Karl Fluch aus Barcelona/DER STANDARD, Printausgabe, 3. 6. 2009)