Arthur Seyß-Inquart war schon ab 1936 "neutraler" Vermittler zwischen Schuschnigg und den Nazis. Am 11. März 1938 übernahm er für drei Tage das Bundeskanzleramt, danach wurde er auf weniger einflussreiche Posten zurückgereiht.

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"Während zu den meisten Hauptakteuren des NS-Regimes längst umfassende wissenschaftliche Arbeiten vorliegen, gibt es über Arthur Seyß-Inquart bislang keine fundierte Biografie" , wundert sich der Historiker Peter Berger von der Wiener Wirtschaftsuniversität. Ein weißer Fleck auf der historischen Landkarte Österreichs, der nun mit Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF mit detaillierten Daten gefüllt werden soll. Auch wenn das Quellenstudium noch einige Jahre dauern wird, lassen sich bereits jetzt die politischen Positionen erkennen, die Seyß-Inquart innerhalb des Ständestaats und später im Großdeutschen Reich eingenommen hat.

Bis in die 1920er-Jahre war der Sohn eines Olmützer Gymnasialdirektors und promovierte Jurist ein sehr durchschnittlicher Vertreter des deutschnational gesinnten Bildungsbürgertums katholischer Prägung. "Zu jener Zeit weist noch nichts darauf hin, dass er sich in eine radikale Richtung entwickeln würde" , so Projektmitarbeiter Johannes Koll.

Weder im Elternhaus noch in der vom Vater geführten Schule wurden antisemitische Tendenzen offen gelebt, als junger Anwalt in Wien vertrat Seyß-Inquart zudem auch jüdische Klienten. "Seine radikalen Neigungen zeigten sich erst 1931, als er dem Steirischen Heimatschutz beitrat. Dieser hatte nämlich dezidierte Putschambitionen gegen die Republik" .

Was also war der Motor seines steilen Aufstiegs im NS-Herrschaftsapparat? "Einerseits glaubte er tatsächlich an die Großdeutsche Idee als Antwort auf die Pariser Vorortverträge von 1919" , ist Koll überzeugt. "Andererseits sah er für sich auch gute Chancen, im Dritten Reich Karriere zu machen. Immerhin hat er sich schon ab 1936 als neutraler Vermittler zwischen dem Schuschnigg-Regime und den Nazis angedient."

Eine Vermittlerrolle, die von beiden Seiten akzeptiert wurde, musste sich Schuschnigg doch mit Berlin arrangieren, je weiter sich Italien von ihm distanzierte. Hitler wiederum hat sich nach dem gescheiterten Attentat auf Dollfuß 1934 auf einen Legalitätskurs festgelegt.

Anfang 1938 war von gleichgewichtigen Verhandlungen dann keine Rede mehr, die Spielregeln wurden mittlerweile ausschließlich von Hitler diktiert, ein Umstand, den Seyß-Inquart für sich optimal zu nutzen wusste: Die Rolle als neutraler Vermittler hatte nun ausgedient. Vorausblickend hatte er sich bereits seit dem Sommer 1937 mehrmals nach Berlin aufgemacht, um sich den Spitzen der Partei als zuverlässiger Partner in der Ostmark zu präsentieren.

Seine Rechnung ging auf: Am12. Februar 1938 drohte Hitler mit dem Einmarsch der Wehrmacht, wenn das NSDAP-Verbot nicht aufgehoben würde. Vier Tage später erhielt Seyß-Inquart das hochsensible Innenressort und damit die Verfügungsgewalt über Polizei und Sicherheitskräfte, "was für die Machtergreifung der Nazis von zentraler Bedeutung war" , so Johannes Koll.

Nach dem Rücktritt Schuschniggs am 11. März 1938 übernahm Seyß-Inquart für drei Tage das Bundeskanzleramt, in seinem Namen wurden die bereits marschierenden deutschen Truppen offiziell ins Land gerufen. Am 15. März ernannte ihn Hitler zum Reichsstatthalter in der Ostmark. Als die österreichische Regierung am 1. Mai 1939 aufgelöst wurde, sank Seyß-Inquart allerdings auf die relativ wenig einflussreiche Position eines Reichsministers ohne Geschäftsbereich ab.

"Befreiung" in Polen

Diese Situation ließ seinen ausgeprägten Ehrgeiz unbefriedigt und trieb ihn zu vergeblichen Profilierungsversuchen auf unterschiedlichsten Gebieten. "Für ihn war es eine richtige Befreiung, als er mit Beginn des Zweiten Weltkriegs als stellvertretender Generalgouverneur nach Polen geschickt wurde" , weiß Koll aus diversen Korrespondenzen.

"Obwohl er in dieser Position neben dem dominanten Hans Frank keine eigenen Akzente setzen konnte, hatte Seyß-Inquart zumindest eine genaue Kenntnis der menschenverachtenden Aktionen im besetzten Gebiet" .

Erst als er ab 1940 als Reichskommissar der Zivilverwaltung in den Niederlanden vorstand, konnte er seinen Profilierungsdrang ungehindert ausleben: "Als sich seine Hoffnung auf eine ‚Selbstnazifizierung‘ der Niederlande nicht erfüllte, wurde die Besatzungspolitik unter Seyß-Inquart äußerst brutal: Die Aktionen gegen Widerstandsorganisationen und die Judenvernichtung erreichten ein Maß" , berichtet Koll weiter, "das in Westeuropa einzigartig war" .

Da sich Arthur Seyß-Inquart davon einen Karriereschub erhoffte, ließ er ab 1943 der SS weitgehende Handlungsfreiheit. Tatsächlich hat aber Heinrich Himmler mehrmals für ihn bei Adolf Hitler interveniert.

Hoffnung auf Begnadigung

Als Seyß-Inquart im Oktober 1946 vor allem für seine Verbrechen in Polen und den Niederlanden zum Tod verurteilt wurde, glaubte er bis zum Schluss an eine Begnadigung: Schließlich habe er aus einem großdeutschen Idealismus heraus gehandelt und die Blutbäder vor allem in den Niederlanden - so seine Verteidigungsstrategie - gingen primär auf das Konto von SS und Wehrmacht.

Das Ausmaß an Verdrängung und Realitätsverweigerung dieses NS-Karrieristen lässt sich insbesondere beim Studium seiner im Gefängnis niedergeschriebenen Überlegungen zu einer möglichen Nachkriegsordnung in Europa erahnen: "Als würde er sich tatsächlich noch Chancen auf eine neue politische Karriere ausrechnen" , staunt Johannes Koll. (Doris Griesser, DER STANDARD/Printausgabe 3.6.2009)