Zwölf Minuten wetterte sie gegen die Parteigrößen: Debora Seracchiani. In den Umfragen führt Berlusconis Partei klar.

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Jetzt gilt sie als Hoffnungsträgerin für die Europawahlen und mögliche Waffe gegen Berlusconi.

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Eigentlich wollte Debora Serracchiani gar nicht nach Rom. "Ich war müde und hatte keine Lust, um Mitternacht in den Bus zu klettern und sieben Stunden bis in die Hauptstadt zu fahren. Im letzten Augenblick habe ich mich umstimmen lassen" , gesteht die junge Anwältin. Eine Entscheidung, die ihr Leben nachhaltig veränderte.

Die Art und Weise, in der Serracchiani auf der römischen Parteiveranstaltung dem Vorsitzenden des Partito Democratico, Dario Franceschini, den Kopf wusch, ließ sie zum neuen Star der Politszene aufrücken. In ihrer zwölfminütigen Rede verlieh die unbekannte Provinzpolitikerin aus dem fernen Udine dem Frust der Parteibasis über den Dauerzwist an der Spitze so bildhaft Ausdruck, dass sie jetzt 1500 E-Mails pro Tag erhält und ihr Handy ununterbrochen klingelt. Unzählige Male wurde ihre Rede ins Internet gestellt und von mehr als 200.000 Nutzern angeklickt. Die unorthodoxe Mischung aus Kritik, Sachverstand und Ironie stieß bei der Basis auf euphorische Zustimmung.

Die Partei fahre keinen klaren Kurs, verliere sich andauernd im Gezänk, verweigere sich dem Generationenwechsel, enttäusche die Wähler. Der Partito Democratico müsse endlich jene Meinung vertreten, die in der Basis vorherrsche. Es gehe nicht an, dass Parteigrößen sich in der Öffentlichkeit befehdeten, wetterte Serracchiani.

"Diese zwölf Minuten haben mein Leben auf den Kopf gestellt. Ich habe doch lediglich das gesagt, was das Parteivolk denkt" , wundert sich die Arbeitsrechtlerin über die unerwarteten Folgen ihres Auftritts. "Aber Bekanntheit interessiert mich nicht." Dem Medienzirkus will sie sich "nach Möglichkeit verweigern" .

Interviews und Fernsehauftritte gewährt sie nur wohldosiert. "Ich liebe meinen Beruf, habe einen Lebensgefährten, zwei Hunde und einen angenehmen Freundeskreis. Für eine Rolle als Politstar bin ich ungeeignet" , witzelt die 38-Jährige, die eher wie 20 aussieht.

Bei der Europawahl geht die energische Verfechterin eines neuen Kurses nun als Hoffnungsträgerin ins Rennen. Doch die Augangslage scheint düster. Während Silvio Berlusconis Rechtsbündnis erstmals die 50-Prozent-Marke anpeilt, muss sich der glücklose Partito Democratico nach Umfragen mit 28 Prozent begnügen. Der Cavaliere, der trotz Unvereinbarkeit in allen Wahlkreisen als Spitzenkandidat für Straßburg ins Rennen geht, will die Linke mit einem Rekordergebnis von 3,5 Millionen Vorzugsstimmen demütigen.

Vor allem die gleichzeitig stattfindenden Wahlen in fast 4000 Gemeinden und 62 Provinzen könnten für die Linke zum Debakel geraten. Die Hälfte der von Mitte-links-Allianzen regierten 50 Provinzen scheint gefährdet - darunter auch Mailand und Turin. Auch in den Rathäusern roter Hochburgen wie Bologna und Florenz müssen die Genossen um die Macht bangen. Angesichts dieses düsteren Horizonts hält Serracchiani, die Jane Austens Roman "Stolz und Vorurteil" acht Mal gelesen hat, einen "selbstkritischen Nachdenkprozess" für unvermeidlich. (Gerhard Mumelter aus Rom/DER STANDARD, Printausgabe, 2.6.2009)