Mit Sack und Pack auf dem Weg nach Alaska; auf halber Strecke geht Wendy der Wagen ein: Michelle Williams in Kelly Reichardts Film über das neue Prekariat, "Wendy & Lucy"

Foto: Stadtkino

Michelle Williams spielt eine Frau, die auf dem Weg zu einem neuen Leben hängenbleibt.


Wien - Unterwegssein war einmal Bestandteil der amerikanischen Mythologie. Immer wieder konnte man aufbrechen, immer wieder das Land durchqueren und, wenn man Glück hatte, immer wieder einen neuen Horizont erreichen. In Kelly Reichardts Film Wendy & Lucy hat sich diese Perspektive eingeengt. Wenn zu Beginn Güterzüge durchs Bild fahren, löst das zwar Erinnerungen an Hobos aus, an jene Streuner, die vogelfrei durchs Land zogen. Doch die jungen Obdachlosen, die wenig später am Lagerfeuer sitzen, leben nicht aus Freiheitsliebe so - sie sind Arbeitsmigranten, die stets dem nächsten Job hinterherreisen.

Eine von ihnen ist Wendy, eine junge Frau, die mit ihrer Hündin Lucy auf dem Weg nach Alaska ist, um in einer der Fischkonservenfabriken zu arbeiten. Sie hat eine lange Reise vor sich, aber das knappe Budget gestattet ihr kaum Flexibilität. Deshalb kann die geringste Behinderung rasch zur großen Bedrohung anwachsen, und genau das geschieht, als sich eines Morgens auf dem Parkplatz einer Mall Wendys Wagen nicht mehr starten lässt. Da ein Problem stets weitere nach sich zieht, wird sie auch noch beim Diebstahl in einem Supermarkt ertappt und verhaftet. Lucy findet sie hernach nicht mehr dort vor, wo sie sie zurückgelassen hat.

Gestrandet in der Urbanität

Es ist ein minimalistisches Drama, das Reichardt hier ausbreitet, sie lotet einen Zustand der Krise aus, der die Heldin in ihren Möglichkeiten stark einschränkt. Sie wollte Wendy in der Wildnis stranden lassen, erzählt die Regisseurin im Interview, nur dass die Wildnis in diesem Fall eine dieser uniformen amerikanischen Kleinstädte Oregons ist, mit ihren Parkplätzen, Tankstellen und Einfamilienhäusern, die fast überall stehen könnten. Ein bevölkerter Ort bringt andere Gefahren mit sich. Man kann sich überall allein fühlen.

Was passiert, wenn eine Einzelne auf eine Gesellschaft stößt, die ihr nichts mehr zu bieten hat - und an ihrem Schicksal nicht den geringsten Anteil nimmt? Dies ist die zentrale Frage von Wendy & Lucy, eine hintergründig politische, die den Film auch zum Zeitbild Amerikas macht, wo man ganz leicht von einer Durchreisenden zum prekären Fall wird. Ohne Adresse bekommt man keinen Job, und ohne Job bekommt keinen anderen Job, sagt der Parkwächter (Wally Dalton) einmal, einer der wenigen, der sich der Gestrandeten als Helfer anbietet.

Wie Wendy auf die ökonomische Not reagiert, ihre Beherrschtheit in der Krise, ihre Pragmatik in Handlungen, dann, phasenweise, auch ihre Selbstversunkenheit, wenn sie nur ein Lied vor sich her summt - allein dieses Gebaren bestimmt den Fortgang des Films. Wird sie Lucy wiederfinden? Und wie viel kostet eine Autoreparatur? In der Beharrlichkeit dieser Figur schimmern auch vergangene neorealistische Heldinnen des Kinos durch, mit noch weniger Rückhalt in der Welt, von Bressons Mouchette bis zur Rosetta der Dardennes.

Reichardt verweist mit ihrem Film eher auf solche europäischen Vorbilder, und sie hat mit der großartigen Michelle Williams einen sehr uneitlen Star an ihrer Seite, der geradezu abwehrend agiert, aber in dieser Zurückhaltung umso mehr Anspannungsmomente zu vermitteln versteht. Nichts wird hier künstlich dramatisiert, mit der Konzentration einer Dokumentaristin protokolliert die Regisseurin die Verhärtung einer Krise, die auf andere, umfassendere verweist.

Old Joy, Reichardts letzter Film, der von einem Ausflug zweier Freunde ins Grüne erzählte, handelte ausdrücklich vom Verlust einer gemeinsamen Erfahrungsweise. In Wendy & Lucy steht nun bereits die gesellschaftliche Solidarität unter Verdacht: Zusammenhalt ist mittlerweile eher eine Aufgabe, welche die Dienstleistungsindustrie verfolgt. Wer als arbeitender Nomade lebt, ist schnell außerhalb jedes Netzwerks, scheint letztlich gar nicht mehr auf: zu frei, um es noch genießen zu können. (Dominik Kamalzadeh / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8.5.2009)