Ab Herbst dürfte die Zahl der Armen in Österreich kräftig ansteigen - "im kommenden Jahr gibt es wahrscheinlich um 100.000 manifest arme Personen mehr" , sagt Martin Schenk von der Armutskonferenz im Gespräch mit dem Standard. Dies wäre eine Steigerung um ein Viertel auf eine halbe Million. Besonders betroffen sind Menschen, die physisch und psychisch beeinträchtigt sind, erklärt Caritas-Präsident Franz Küberl - hier hat ein entsprechend großer Anstieg bereits im noch relativ guten Jahr 2008 stattgefunden.

Die Angst der Österreicher, selbst Betroffene der Krise zu werden, ist in den vergangenen Monaten deutlich angestiegen, sagt Werner Beutelmeyer vom Linzer market-Institut. Dieses hat in der Vorwoche eine Online-Umfrage unter 1293 Österreichern durchgeführt. Von den Befragten sagten vier Prozent, dass sie von der Krise in den kommenden Monaten "sehr stark betroffen" sein werden, weitere 27 Prozent erwarten für sich immerhin "ziemlich starke" Auswirkungen. Noch im Februar fühlten sich erst 22 Prozent mehr oder weniger stark bedroht. 

Besonders stark von der Krise bedroht sieht sich die Altersgruppe zwischen 30 und 50. Beutelmeyer verweist darauf, dass in Familien mit Kindern überdurchschnittlich große Sorgen gehegt werden - unter leitenden Angestellten und Beamten, aber auch bei Pensionisten sind die Ängste eher gering ausgeprägt, weil es hier hohes Vertrauen in die soziale Versorgung gibt. Der Schuldenreport 2008 ergibt, dass jene Österreicher, die mit ihren Schulden Probleme haben, im Schnitt 76.407 Euro zahlen müssten.

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Wien - Mit der Scheidung kam der finanzielle Kollaps. Der Exmann reißt Frau F. mit in den Privatkonkurs. Die Bank will mehr als 100.000 Euro - ein offener Kredit, mit dem in guten Zeiten unter anderem eine Eigentumswohnung angeschafft worden war. Die Wohnung ist längst weg. Was von einer fünfjährigen Ehe übrigblieb: Frau F., 32 Jahre, lebt mit ihrem Sohn am Rande Wiens am Rande des Existenzminimums. Trotz eines Halbtagsjobs. Von den verdienten 1200 Euro müssen Miete, Strom, Gas, Kindergarten bezahlt und Lebensmittel, Gewand und Windeln gekauft werden. "Da bleibt mir nichts übrig" , klagt die Alleinerzieherin.

Der Auslöser der Finanzprobleme von Frau F. ist durchaus typisch. Jeder zehnte Fall, den Schuldnerberater auf den Tisch bekommen, hat mit Scheidung oder Trennung zu tun. Andere wird nun die Wirtschaftskrise ins Strudeln bringen. "Wir haben die große Sorge, dass wir im nächsten halben Jahr beziehungsweise im nächsten Jahr komplett überrannt werden" , blickt der Geschäftsführer der Dachorganisation der Schuldnerberatungen, Hans Grohs, düster in die nahe Zukunft. Steigende Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit führen dazu, "dass viele mit den Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen werden" . Schon jetzt sei die Zahl jener, die "schleichend mehr ausgeben, als sie einnehmen, sehr groß" .

"Soziales Fieberthermometer"

"Ab Herbst" , sagt auch Martin Schenk von der Armutskonferenz, "werden die Armutszahlen steigen - 2010 und 2011 werden sie sehr hoch sein." Derzeit gelten 400.000 Menschen in Österreich als manifest arm, eine Million als "armutsgefährdet" . Als Indiz für den Anstieg nennt Schenk auch das Auftauchen von "Sonderdienstleistern" wie etwa die Sozialmärkte in den vergangenen Jahren. "Ich sehe das als soziales Fieberthermometer" , sagt Schenk. Deren Gründung zeige, "dass die ‚normalen‘ Institutionen das offensichtlich nicht mehr auffangen können" . So entstünden aber auch "parallele Sondersysteme für Arme" , warnt er.

Bereits seit Ende des Vorjahres - Stichwort Teuerung - kämpft die Caritas mit einem "deutlichen Anstieg" in ihren Beratungsstellen. Erschreckend sei vor allem die steigende Armut bei Menschen, die psychisch und physisch beeinträchtigt sind. "Da gab es von 2007 auf 2008 einen Anstieg um rund 20 bis 25 Prozent" , sagt Caritas-Präsident Franz Küberl. Seine Erklärung: "Die Wirtschaftskrise erhöht den Druck auf die Leute. Steigt die Arbeitslosigkeit, steigt auch dieser Bereich." Armut mache krank - und einsam, so Küberl: "Wer kein Geld hat, bleibt allein zu Hause."
Schenk wie Küberl verlangen als Hilfsmaßnahme die bedarfsorientierte Mindestsicherung, deren Einführung auf das Jahr 2010 verschoben wurde. Sie fordern eine Reform des Sozialhilfevollzugs sowie Investitionen in Bildung. Den sozialen Frieden sieht der Caritas-Präsident nicht in Gefahr, denn: "Die Armen sind zu isoliert." 

Zumindest für Frau F. gibt es nun Hoffnung. Ihre Bank hat einem Angebot zugestimmt. "Besser als das Existenzminimum" , sagt sie. Nur: "Verstehen tu ich das nicht. Die Banker verschwenden Millionen, da sind Fälle wie meiner doch nur Peanuts." (Peter Mayr/DER STANDARD-Printausgabe, 4.5.2009)