Wie Zerstörung erst aus der Ferne sichtbar wird: Peter Mettlers "Petropolis" zeigt die tote Erde eines Ölfördergebietes in Kanada.

 

Foto: Visions du Réel

"Cash and Marry"

Mischief Films

Plötzlich ist da etwas, das man noch nie gesehen hat. Seit zwanzig Jahren arbeitet Swetlana Geier an den Übersetzungen der fünf großen Romane Dostojewskis. Jeden Morgen bekommt die 86-Jährige Besuch von einer anderen älteren Dame, die auf einer altmodischen Schreibmaschine die Texte zu Papier bringt. "Sprachen sind inkompatibel", meint Swetlana Geier, weshalb man sich den gesamten Text verinnerlichen müsse. Wenn sie heute mit ihrer Enkelin in ihrer Geburtsstadt Kiew, die sie 1943 auf der Flucht vor Stalin Richtung Deutschland verließ, die Deckenmalerei einer Kirche bestaunt, zählt auch hier das Ganze: Das Einzelne ist nicht zu erfassen.

In seinem bemerkenswerten Porträtfilm Die Frau mit den 5 Elefanten, beim renommierten Dokumentarfilmfestival von Nyon in der Westschweiz soeben mit einem der Hauptpreise ausgezeichnet, sucht der Schweizer Filmemacher Vadim Jendreyko ebenfalls nach einer Gesamtheit: Aus unterschiedlichen Richtungen nähert er sich Swetlana Geiers Arbeit, ihrem Alltag und ihrer Geschichte und verknüpft diese zu einem einzigartigen Lebensbild.

Die Frage nach der richtigen Distanz, die Jendreyko stellt, könnte ohne weiteres auf andere Festivalbeiträge übertragen werden: Wie viel Genauigkeit braucht es, um sich seinem Gegenstand ohne falsche Empathie zu nähern? Wie viel Ernsthaftigkeit ist notwendig, um sich von sozialen Missständen und ökologischen Katastrophen, derer sich das dokumentarische Kino wieder verstärkt annimmt, nicht vereinnahmen zu lassen? Wie unterschiedlich die Antworten darauf sind, zeigten zwei - auch perspektivisch - weit voneinander entfernte Arbeiten:

In Petropolis filmt Peter Mettler, einer der eigenwilligsten Dokumentaristen des Kinos (Gambling, Gods & LSD), ein Ölfördergebiet in der kanadischen Provinz Alberta: Zur Gewinnung des erdölhältigen Bitumens wurden hier in den vergangenen Jahren Wälder gigantischen Ausmaßes gerodet, mittlerweile erstreckt sich die tote Erde weiter, als das menschliche Auge reicht. Für Mettler Grund und Auftrag, die letztmögliche Perspektive zu wählen: Mittels Luftaufnahmen aus dem Helikopter versucht Petropolis die Dimension der Vernichtung begreifbar zu machen. Menschen und Maschinen werden auf dem Boden zu winzigen Insekten, während die grauen Straßen, braunen Auffangbecken und schwarzen Ölteppiche sich zu einem kunstvollen Gemälde vermischen.

Surreale Landschaften

Während thematisch verwandte Filme, die sich der Vernichtung von Ressourcen und Umwelt widmen, oftmals auf Fernsehtauglichkeit reduziert werden, gelingt es Mettler sogar in dieser Auftragsarbeit für Greenpeace der zerstörten Landschaft eine beinahe surreale Qualität abzugewinnen.

Natürlich ist es nur Zufall, dass ausgerechnet die Stimme Mettlers, in Petropolis auf einen Kommentar am Ende reduziert, in The Sound of Insects - Record of a Mummy zur tragenden Erzählinstanz wird. Während Mettler den Blick von ganz oben wählt, sucht Peter Liechti in seinem jüngsten Film den von ganz unten: Liechti schildert die Geschichte eines Mannes, der sich in einen Wald zurückzog, um sich zu Tode zu hungern. Inspiriert von einer Vorlage des japanischen Schriftstellers Shimada Masahiko, blickt Liechti mit den Augen des Sterbenden auf Bäume, auf Wassertropfen und Insekten. Wie in Becketts Malone stirbt gerinnt das Warten auf den Tod dabei zu einem Ausnahmezustand, der rational nicht zu erfassen ist. Ein metaphysischer und zugleich sehr irdischer Bild- und Klangteppich.

Dass Filme auf verschiedenen Ebenen miteinander kommunizieren, ist in Nyon keine Seltenheit; ebenso wenig, dass österreichische Produktionen ausgezeichnet werden: Der bereits auf der Diagonale gezeigte Cash & Marry von Georgiev Atanas, in dem sich zwei junge Mazedonier für eine Aufenthaltsbewilligung auf die Suche nach einer Wiener Braut begeben, erhielt den Preis für den besten Erstlingsfilm.

So erscheinen in Nyon die Filme wie die Fäden eines Stoffes, den Swetlana Geier mit guter Literatur vergleicht. "Beim Waschen verlieren die Fäden nämlich ihre Orientierung", meint sie, und da helfe nur sorgsames Bügeln. Auch eine Möglichkeit, einen Elefanten zu besiegen. (Michael Pekler aus Nyon / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4.5.2009)