Als ich im Jahr 1975 zum ersten Mal auf Einladung des Außenministeriums für eine Vortragsreise in Japan weilte, hat mich beeindruckt und zugleich doch befremdet, wie beim Besuch des Elektronikkonzerns Matsushita in Osaka die Mitarbeiter jeden Morgen zum Arbeitsbeginn eine Firmenhymne sangen. Diese endete mit dem Aufruf: "Unsere Industrie soll wachsen, wachsen, wachsen! Lasst uns aufrichtig zusammenstehen für Matsushita Elektrik."

Ich habe zwar noch das vergilbte Papier mit dem Text, doch die Güter werden nicht mehr, wie es damals in der Firmenhymne hieß, "in einem endlosen Strom ... den Völkern der Welt" geschickt.

Wirtschaftsminister Kaoru Yosanu sprach kürzlich "von der größten Wirtschaftskrise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs". Japanische Gesprächspartner in Tokio und an der Universität von Kioto können noch kein Ende der Talfahrt der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt absehen.

Bei meinem inzwischen vierten Besuch in diesem Land hört man dramatische Berichte über den Absturz der stark exportorientierten Industrie. Für den Februar meldet die Automobilindustrie einen Rückgang der Produktion um 56,2 Prozent im Jahresvergleich - den stärksten, den es je gegeben hat. Die gesamte Industrieproduktion fiel im Februar um 9,4 Prozent - die fünfte negative Monatsbilanz in Folge.

Wie kein anderer Staat ist Japan für sein Überleben auf Exporte angewiesen, da alle Rohstoffe und fast seine ganze Energie importiert werden müssen. Jetzt aber sanken die Exporte im Februar im Vergleich zum gleichen Monat des Vorjahres um 49 Prozent! Der Börsenindex liegt um 80 Prozent unter seinem Höchstwert von 1989. Seitdem 1989 die Spekulationsblase platzte, wurde das Prinzip der Unkündbarkeit, also der lebenslangen Beschäftigung erheblich gelockert; immer mehr Firmen stellten temporäre Arbeitskräfte ein.

Bereits in den letzten Monaten wurden zehntausende solcher Mitarbeiter und Ausländer entlassen. Für jede freie Stelle melden sich im Schnitt fünf Bewerber. Selbst die Angehörigen des Stammpersonals singen dieser Tage kaum; sie zittern um ihre Stellen.
In einer Gesellschaftsordnung, die nicht Individualität, sondern Einordnung als höchstes Ziel anstrebt, bleiben selbst ausländische Professoren Außenseiter.

Die Rufe der führenden Bankiers und Industriellen nach qualifizierten ausländischen Arbeitskräften verhallen trotz des steten Rückgangs der Bevölkerung wirkungslos, obwohl bis 2050 die arbeitsfähige Bevölkerung um ein Drittel schrumpfen wird. Die meisten Japaner sind noch immer gegen den Zuzug Fremder, weil nach den von der Nationalreligion Schintoismus geprägten Vorstellungen Nichtjapaner nie völlig der japanischen Gesellschaft zugehören können.

Der Politologie-Professor Kimura, der meinen Vortrag an der Kyoto Universität eingeleitet hat, setzt seine Hoffnungen auf Indien und China eher als auf die USA als Zukunftsmärkte für japanische Produkte. Trotz des starken Einbruchs in der Realwirtschaft (nicht im Bankensektor!) erlebt der Besucher eine "stille Krise" . Die Japaner klagen nicht, sie arbeiten noch härter und noch länger, um den Absturz ins Ungewisse zu überleben. (Paul Lendvai, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2..4.2009)