Europa, die EU und ihre Nationalstaaten - ein einziges großes Missverständnis. Zu diesem Schluss muss fast zwangsläufig jeder kommen, der die widersprüchlichen, zum Teil auch dümmlichen Parolen zu deuten versucht, die die Kampagnen für die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni prägen. Quer durch die 27 Mitgliedstaaten der Union.

Da schreien die einen nach großzügiger Finanzhilfe aus Brüssel, weil einzelne Staaten allein nicht (mehr) in der Lage sind, die aktuelle Banken-, Auto- und Konjunkturkrise zu überstehen. Geht es dann aber um andere Bereiche, wie etwa Kriminalitätsbekämpfung oder eine an den Menschenrechten orientierte Steuerung der Flüchtlings- und Migrantenströme, dann werden rasch wieder die nationalen Reflexe bedient nach dem Motto: Wer ein Ausländer ist und willkommen oder nicht, bestimmen immer noch "wir" .

Halbe Regierungen zieren sich, ihren Bürgern deutlich zu machen, dass der EU-Vertrag von Lissabon ein nicht unbedingt bahnbrechendes, aber doch wichtiges Instrument zum besseren Funktionieren der Gemeinschaft wäre. Aber dieselben Verantwortlichen wollen die Menschen glauben machen, ihre schwache Landeswährung könne im sicheren Euro-Hafen unterkommen, auch wenn die Union schwach bleibt. Polen und Tschechien lassen grüßen.
Da verwahren sich oft dieselben Leute, die EU-Milliarden fordern, gegen zu viel (Kontroll-)Einfluss der Institutionen - sei es der Kommission in Brüssel, des Gerichtshofs in Luxemburg, des Parlaments mit Stammsitz Straßburg.

Genau 30 Jahre nach Einführung des Direktwahlrechts bei EU-Wahlen, 17 Jahre nach Schaffung des Binnenmarktes, 12 Jahre nach dem Fallen der Kontrollen an den Staatsgrenzen und fünf Jahre nach der großen Erweiterung nach Osteuropa präsentiert sich die Union dem "einfachen" Bürger als ein ziemlicher Wirrwarr - als politisches Gebilde, das er im realen Leben schwer greifen, kaum verstehen kann. Man könnte über den Zustand dieser unfertigen, verletzlichen Union hinweggehen, wenn damit nicht zwei schlimme Folgen verbunden wären, die an die Substanz der Demokratie gehen.

Erstens: Mit wenigen Ausnahmen nimmt in fast allen Ländern die Wahlbeteiligung dramatisch ab. So auch in Österreich, wo 2004 nur mehr 45 Prozent der Wahlberechtigten zur Abstimmung gingen. Was wiederum Ausdruck eines krassen Unterschätzens der Bedeutung des Europäischen Parlaments ist. Es gibt kaum noch wichtige EU-Entscheidungen, bei denen die Fraktionen in Straßburg nicht mitmischen, und sei es indirekt. Das braucht Legitimation.
Zweitens ist Europapolitik in besonderem Ausmaß Angriffsziel radikaler Gruppen, Medien und national-populistischer Vernaderung, die auf Zerschlagung des Einigungswerkes abzielen. Auch hier ist Österreich an vorderster Front vertreten.

Umso mehr tut Aufklärung not, nicht nur über die EU-spezifischen Zusammenhänge. Die Wahlwerber im Land sollten ein "Fairnessabkommen" vereinbaren, das zwei Grundprinzipien außer Streit stellt. Erstens: Hören wir endlich auf, so zu tun, als könne man für oder gegen die EU sein. Die Union ist so selbstverständlich wie der Staat, die Bundesländer, wie die Gemeinden. Es würde ja auch kein Vernünftiger behaupten, eine Nationalratswahl sei ein Votum für oder gegen Österreich.

Zweitens: Im Wahlkampf muss es darum gehen, zu zeigen, welche politischen Inhalte die Wahlwerber in Europa umzusetzen gedenken, und nicht darum, wer die bessere "Österreich-Partei" ist. Auf dieser Basis lässt sich trefflich streiten, so könnte ein interessanter Wahlkampf beginnen, mit (durchaus scharfen) Auseinandersetzungen um europapolitische Inhalte, nicht Phrasen.  (Thomas Mayer/ DER STANDARD-Printausgabe, 27. März 2009)