Kiel - Mit einigem Unbehagen blicken Geologen zurzeit in die Tiefen des Nordmeeres. Dorthin, wo vor den Küsten Norwegens und Spitzbergens der Meeresboden 4000 Meter tief abfällt. Gewaltige Schlickmassen lagern auf dieser Schräge. Würden sie in die Tiefe rutschen, wäre es das Ende vieler Küstenorte: Die unterseeischen Lawinen würden riesige Wellen auslösen, die sich kreisförmig als Tsunamis ausbreiten.

Der deutsche Autor Frank Schätzing hat das Szenario in seinem Bestseller "Der Schwarm" vorweggenommen. Er berief sich auf die Erkenntnis, dass die Unterwasserhänge nicht für die Ewigkeit gemacht sind: Gashaltige Eisschichten, sogenannte Methanhydrate, halten das Sediment als schwacher Kitt zusammen. Ändern sich Wasserstand oder Temperatur, könnte sich der Kleber auflösen. Solch ein Szenario ist im Zuge des Klimawandels nicht unwahrscheinlich.

In den vergangenen Jahrtausenden kollabierten die Hänge bereits mehrmals. Am Meeresgrund finden sich Spuren mehrerer großer Lawinen. Vor 8150 Jahren beispielsweise stürzten vor der Küste Norwegens zwischen Bergen und Trondheim Erdmassen von der Größe Islands in die Tiefe. Die folgenden Tsunamis waren im fernen Schottland sechs Meter hoch. Geologen fanden dort ein verwüstetes Steinzeitlager.

Von einem Forschungsschiff aus haben Wissenschafter nun die Hänge vor Spitzbergen erkundet. Ihr Bericht am Dienstag auf der Jahrestagung der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft in Kiel löste Besorgnis aus.

Bereits erste Messungen mit einem herkömmlichen "Fisch-Finder" hatten die Forscher erstaunt. Das Gerät sendet Schallwellen ins Wasser, um Fischschwärme aufzuspüren. In diesem Fall lieferte es jedoch ominöse Bilder aus der Tiefe.

Verdächtige Gasblasen

An tausenden Stellen perlten Gasblasen aus dem Meeresgrund, berichtete der deutsche Geophysiker Christian Berndt auf der Tagung in Kiel. Sie bildeten regelrechte Unterwasser-Springbrunnen mit jeweils hunderten Metern Höhe. Löst sich dort bereits das Methanhydrat auf?

Untersuchungen des Meeresbodens milderten zunächst die Sorge der Forscher. Mit Schallwellen konnten sie den Boden durchleuchten; dabei achteten die Wissenschafter besonders auf Methanhydratschichten, die in einer Meerestiefe lagen, die von der Erwärmung des Wassers gefährdet sein könnte.

Tatsächlich entdeckten sie einige Unterwasser-Springbrunnen an der unteren Stabilitätsgrenze der Methanhydrate, berichtete Christian Berndt. Der Großteil der Gas-Sprudel lag indes weit hangaufwärts über der oberen Stabilitätsgrenze. Die Ausgasung sei zu einem großen Teil nicht der Erwärmung anzulasten, folgerte Berndt. Wie stark sich das Gas bei einer weiteren Erwärmung des Wassers beschleunigen könnte, sei allerdings unklar. Eine Entwarnung klingt anders.

Die Spuren alter Lawinen am Meeresgrund zeigen das Rezept für die mögliche Katastrophe. Stets sei es die gleiche Sorte Sediment gewesen, die in die Tiefe gerauscht sei, haben die Forscher erkannt: Sand, den Gletscher und Schmelzwasserflüsse während der Eiszeit vor die Küste gespült hatten. Zwar sei dieses Geschiebe vielerorts bereits in die Tiefe gerutscht. Doch vor Spitzbergen und Norwegen ragten auf den Hängen vor der Küste teils noch große Massen empor, berichtete Geophysiker Berndt. "Das ist durchaus besorgniserregend."

Berndt wie auch eine Forschergruppe um Maarten Vanneste aus Norwegen haben das Extremszenario vorsichtshalber schon mal durchgerechnet. Bis zu 130 Meter hohe Wellen könnte demnach eine Unterwasserlawine auslösen. Die Wellen würden bis in die Nordsee rollen, ergänzt Berndt. An der niederländischen Küste wären die Tsunamis noch zehn Meter hoch. (Axel Bojanowski/DER STANDARD, Printausgabe, 26.3.2009)