"Slum Survivors" zeigt den Alltag im Slum Nairobis und steht auf der Seite der Menschen, ohne ihr Leid vorzuführen.

Foto: Filmfestival Thessaloniki

Wien - Frühmorgens machen sich die Männer auf den Weg in den Wald. Es dauert nicht lange, bis die ersten Bäume gefällt sind, und rasch werden die Holzplanken zu Booten für die Überfahrt weiterverarbeitet. "Barcelona or Die" des senegalesischen Filmemachers Idrissa Guiro beginnt bezeichnenderweise dort, wo Nikolaus Geyrhalters "7915 km" endet: in Dakar. Die Hauptstadt Senegals ist nämlich nicht nur Ziel der berühmten Rallye, sondern auch Sammelpunkt für Flüchtlinge aus allen Teilen Afrikas.

Das Schicksal jener, die es nicht nach Barcelona schaffen, findet sich in der Regel in Form kurzer Meldungen wieder, sei es aus den mit meterhohem Stacheldraht gesicherten spanischen Exklaven in Nordafrika oder aus dem Flüchtlingslager im italienischen Lampedusa. Auf die Kinoleinwand hingegen gelangt die afrikanische Wirklichkeit selten: In den vergangenen Jahren hat kein einziger afrikanischer Dokumentarfilm seinen Weg in die heimischen Kinos gefunden, und selbst im europäischen Festivalbetrieb bleiben afrikanische Arbeiten eine Randerscheinung.

Das Stigma des ethnografischen Films, das seit dem Filmpionier Jean Rouch dem westlichen Blick auf den Kontinent anhaftet, trägt das Seinige dazu bei: Gerade an die Bilder "schwerer" Themen wie Kolonialismus, Elend und Ausbeutung sind nach wie vor entsprechende westliche Vorurteile geknüpft, während afrikanische Filmemacher oft genug buchstäblich aus der Not eine Tugend machen - bis hin zu traumatischen Erfahrungen vom Genozid in Ruanda.

Ein Dilemma, dem das expandierende Dokumentarfilmfestival von Thessaloniki nun in Form einer breit angelegten Filmschau nachging. Denn obwohl die Vielfalt der Filme eigentlich jedem Versuch einer Etikettierung eines kontinentalen Kinos widerspricht, ist eine Gemeinsamkeit unübersehbar: der Wunsch, dem westlichen Blick einen eigenen entgegenzuhalten.

Wer als Europäer also vom Leben im Slum etwas erfahren möchte, sollte statt Danny Boyles "Slumdog Millionaire" lieber "Slum Survivors" von Peter Murimi und David Gough sehen: In Kibera, dem größten Slum Nairobis, leben über eine Million Menschen; sechs davon begleitet der Film durch ihren klaustrophobischen Alltag - und führt dabei nicht Leid und Dreck vor, sondern stellt sich buchstäblich auf die Seite der Menschen. Und wer in Dakar eine Arbeiterin ihre Träume berichten hört, während die Wirklichkeit die junge Frau gnadenlos zu Boden zwingt, bekommt einen beklemmenden Einblick in die wirtschaftliche und soziale Ordnung: "The Silent Monologue" von Khady Sylla und Charlie Van Damme nimmt ein gewöhnliches Schicksal zum Anlass, um die Hierarchien zwischen Klassen und Geschlechtern zu untersuchen.

Die Debatten über eine unzulässige westliche Sicht auf Afrika führte jedoch einmal mehr die Britin Kim Longinotto ad absurdum: In "Rough Aunties" folgt sie fünf Frauen, die in einer Hilfsorganisation im südafrikanischen Durban missbrauchte Kinder unterstützen.

Über den Alltag der Helferinnen entfaltet Longinotto auf beeindruckende Weise das Panorama einer Gesellschaft im Umbruch: Alte Strukturen, obwohl aufgebrochen, sind nach wie vor wirksam, während vor allem die drei schwarzen Mitarbeiterinnen ihre Position täglich neu überprüfen müssen. Ein Projekt und ein Film mit Zukunft. (Michael Pekler, DER STANDARD/Printausgabe, 25.03.2009)