Nicht erst seit dem Walkman ist Japan das Land des tragbaren Ohrenschmauses. Seit Jahrhunderten bietet das Land einen ganz besonderen ohralen Hochgenuss: den Mimikaki, auf deutsch Ohrenkratzer. Das in Generationen zur ergonomischen Perfektion entwickelte hölzerne Standardmodell misst acht bis 20 Zentimeter in der Länge, drei Millimeter in der Breite und trägt an der Spitze ein Löffelchen. Doch nun bekommt das Urmodell ernsthafte Konkurrenz von einem Hightechgerät - einem kleinen Ohrenbesen aus spiralförmig angeordneten, rabenschwarzen Nylonhärchen.

"Engelsgleicher Ohrenkratzer" nennt der Pharmahersteller Koba-yashi das 315 Yen (2,70 Euro) teure Produkt selbstbewusst. Oder, poetischer übersetzt: Die Ohren kratzen und die Engel im Himmel singen hören. Konzernsprecher Yuji Koyama preist die Vorzüge des Besens gegenüber den Markt beherrschenden heimischen Holzmodellen und aus dem Westen importierten Wattestäbchen in den höchsten Tönen: "Während die anderen Ohrenreiniger nur Teile des Hörkanals reizen, bietet unser Bürstentyp 360-Grad-Vollkontakt. Und die weichen Härchen kitzeln dabei herrlich im Ohr." Nach erfolgreichen Testverkäufen hofft der Konzern, nach dem landesweiten Verkaufsstart im April 700.000 Stück pro Jahr zu verkaufen.

Ein gewagtes Ziel. Bisher sind alle Versuche fehlgeschlagen, die Vormacht des Klassikers zu brechen. Mimikaki aus Plastik oder mit metallischen Spiralen anstelle des Löffels, Hightechvarianten, die mit LEDs das Innenohr ausleuchten oder mit Minikameras filmen, selbst das westlich-asiatische Hybridmodell, auf der einen Seite Wattestab, auf der anderen Löffel - allesamt fristen sie ein Nischendasein. Kobayashi Pharma geht daher im Marketing einen neuen Weg. Im Gegensatz zu den erfolglosen Vorgängern wirbt der Konzern zuerst mit Lustgewinn und nur im Kleingedruckten mit verbesserter Reinigungsleistung. "Hyper-angenehm" steht auf der Packung, unter dem Gesicht einer entrückt lächelnden jungen Frau.

Ein geschickter Schachzug. Denn die Japaner haben sich ungeachtet ärztlicher Warnungen vor perforierten Trommelfellen ihre lustvolle Beziehung zum recht scharfkantigen Ohrenkratzer bewahrt. Seit Generationen gilt das "hiza makura mimikaki", das "Kniekissen-Ohrenkratzen", als ein Symbol perfekten Ehelebens: Die Ehefrau sitzt auf ihren Unterschenkeln, bettet zärtlich den Kopf ihres Mannes in ihrem Schoß und kratzt ihn voller Hingabe im Ohr. Der Aushub wird sorgsam in ein Papiertaschentuch abgestrichen, zur späteren Erfolgskontrolle. Vom Ehemann wird beim Akt erwartet, dass er mit den Augen rollt und hin und wieder lustvoll stöhnt.

Maid-Cafés im Tokioter Stadtteil Akihabara haben sich auf alleinstehende, schüchterne Männer spezialisiert. Kostümierte junge Frauen bieten dort Kaffee, Kuchen und auf Wunsch für ein paar tausend Yen wohlgemerkt reine Konversation im Séparée feil. Das höchste der Gefühle ist der optionale Mimikaki-Service für zusätzlich 1000 bis 1500 Yen. "Viele nehmen den in Anspruch", sagt eine junge Serviererin. Frauen bevorzugen hingegen spezialisierte Mimikaki-Salons mit bis zu eineinhalbstündigem Schönheitsprogramm.

Viele westliche Besucher schlackern zuerst mit den Ohren, wenn sie auf diese verfeinerte Mimikaki-Kultur stoßen. "Zu Beginn fand ich die Vorstellung eklig", sagte eine Fotografin aus Paris. "Aber nachdem ich es ausprobiert habe, bin ich bekehrt." Ihr Problem: In Europa haben die Ohrenärzte den Ansätzen einer Ohrenkratzkultur fast vollständig den Garaus gemacht. Rettung aus Japan ist nicht in Sicht. "Wir haben keine Pläne, den Ohrenbesen zu exportieren," sagt Unternehmenssprecher Koyama. (Marin Koelling aus Tokio; DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17.3.2009)